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Die Tränen der Massai

Die Tränen der Massai

Titel: Die Tränen der Massai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Coates
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akzeptieren. Das hier würde das Letzte sein, was sie als Mutter für ihren Sohn tun konnte. Sie sah Seggi im heller werdenden Morgenlicht an. Er war ein Sohn, auf den jede Mutter stolz sein konnte. Er war so liebevoll, wie eine Massaimutter es sich wünschen konnte. Nun, eine Mutter konnte immer noch mehr Liebe brauchen, aber er war zweifellos ein liebevoller Sohn. Und mutig. Ja, er war mutig. Er hatte viele gute Eigenschaften.
    Wieder tauchte sie die Hand in die Milchmischung und goss sie auf Seggis geflochtenes Haar. Die Milch lief durch den roten Ocker auf Seggis Brust, wo sie dünne rosa Linien in die Kreidemuster auf seinem Oberkörper zog. Die Rasur würde bald beendet sein, und Seggis Kopfhaut, die seit zwölf Jahren den Himmel nicht gesehen hatte, würde rot angemalt werden. Danach würde er die Segnungen entgegennehmen und ein letztes Mal mit seinen Altersgenossen tanzen. Er würde seine Mutter verlassen und ein neues Leben beginnen. Wie eine Raupe, die auf die warme Morgensonne reagiert, würde er sein neues Ich mit neuer Kleidung, einem neuen Namen und einem neuen Leben kenntlich machen. Er würde ein verantwortungsbewusster Ältester sein, seine erste Frau nehmen und beginnen, eine Familie und Hinterlassenschaften aufzubauen.
    Wieder erinnerte sich Naisua daran, dass er ein guter Sohn gewesen war. Nach seiner Beschneidung in seinem elften Lebensjahr hatte er wie ein Mann an der Seite seiner Mutter gestanden und ihr geholfen, das Weideland und ihre Tiere zu beschützen. Dann waren die Jahre plötzlich schnell vergangen, und er war ein
Morani,
ein Krieger, gewesen, und hatte Naisua und das
Enkang
beschützt. Es waren gute Jahre gewesen. Das Leben war für Naisua besser geworden. Seggi hatte für sie gesorgt, sie verteidigt. Sie hatte ein normales Leben führen können, obwohl es manchmal einsam gewesen war.
    Und sie wusste, dass sie ihrerseits eine gute Mutter gewesen war. Sie hatte Seggi durch die schwierigen Zeiten als Kind helfen können, sie hatte sich in seinen Jahren im
Manyatta
der
Moran
um ihn gekümmert. Sie hatte für ihn gekocht und die Wunden von Jagd, Überfällen und blutigen Stammeskämpfen geheilt, wie eine gute Mutter es tun sollte. Sie war darüber älter geworden, aber das interessierte sie nicht. Ihr Leben wurde von ihrer Pflicht bestimmt, und diese Pflicht bestand darin, ihren Sohn großzuziehen. Als Ältester würde er bald an ihrer Stelle
Laibon
werden. Endlich konnte sie diese Verantwortung abgeben, die ihr in den letzten Jahren immer mehr Sorgen gebracht hatte.
    Das Rasiermesser war jetzt beinahe im Genick angekommen. Zöpfe fielen, einer nach dem anderen. Seggi nahm die Veränderung seines Status bewegungslos hin, aber Naisua wusste, dass er alles andere als glücklich war. Kein
Moran
freute sich über den Übergang von einem Leben als Krieger und sorgenfreier Junggeselle zur Verantwortung eines Ältesten und Familienoberhaupts. Seine letzten Kriegertage waren eine Orgie des Zorns gewesen, erfüllt von verwegenen Überfällen und Kämpfen.
    Naisuas Hand umfasste die Schulter ihres Sohns fester. Es zerriss ihr das Herz, zu sehen, wie traurig er war. Aber sie konnte nichts dagegen tun: Er war jetzt ein Mann und durfte sich nicht mehr von seiner Mutter helfen lassen. In ihrem Hinterkopf jedoch blieb die nagende Angst, dass Seggi sie immer brauchen würde. Bei all seiner Kraft und Tapferkeit hatte er nichts von der Weisheit seines Vaters, und Naisua musste widerstrebend zugeben, dass der Status eines Ältesten und die weiteren Jahre ihm diese Weisheit wahrscheinlich auch nicht vermitteln würden. Wenn er zu viele Entscheidungen treffen musste, wurde er nervös oder ließ sich beeinflussen. Er war ein guter Sohn, aber Naisua fragte sich, ob er den erfolgreichen Übergang zum Ältesten, Familienvater und
Laibon
allein vollziehen konnte.
    Die letzten trotzigen Zöpfe fielen auf den Haufen zu Naisuas Füßen. Sie goss den Rest der Milch in ihre Hand und rieb sie sanft auf seine nackte Kopfhaut. Das erinnerte sie an die Milchbäder, die sie ihm vor so langer Zeit bereitet hatte. Sie verspürte ein beinahe unerträgliches Bedürfnis, ihn an sich zu ziehen, wie damals auf der Ebene von Laikipia, als er noch ein Baby gewesen war. Wenn die glühende Sonne und die kalten Nächte, wenn Hunger und Krankheit gedroht hatten, ihn ihr zu nehmen, hatte sie mit unbeugsamer Willenskraft um ihn gekämpft.
    »Es ist geschehen, mein Sohn.«
    »Ja.«
    Er blieb einen Augenblick länger sitzen, ein Bein

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