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Die Tränen der Massai

Die Tränen der Massai

Titel: Die Tränen der Massai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Coates
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ließ. Ein Strom silberner Splitter ergoss sich über die Hänge und durch das Dorf. Die Splitter bildeten einen Teich, und der Teich erhob sich wieder in den Himmel und wurde erneut zur Silberkugel. Die Kugel änderte ihre Gestalt. Nun war sie das Gesicht von Penina – Seggis vierjähriger Tochter und Naisuas einzigem Enkelkind.
    Das Kind erhob sich aus dem glitzernden Bett und kam lachend auf Naisua zu.
    »Großmutter«, flüsterte Penina. Naisua hatte die Kleine seit über einem Jahr nicht mehr gesehen, und nun breitete sie in der dunklen Hütte die Arme aus, um das entzückende Kind in ihrer Traumvision zu umarmen.
    Plötzlich war die kleine Penina verschwunden, und Naisua sah Seggis ekstatisch verzogenes Gesicht. Er fiel nackt in die Umarmung seiner Frau Agnes. Ihre silbernen Körper lagen reglos, wenn man von dem schweren Atem einmal absah. Seggi verschmolz mit dem silbernen Teich.
    Agnes kam mit einer Hand voll trockenem Gras und einer einzelnen Leeyua-Blüte näher. Naisua wunderte sich über dieses Geschenk – ein Friedensangebot. Sie hielt in Agnes’ besorgtem Gesicht nach einer Erklärung Ausschau und streckte die Hand nach ihr aus. Aber Agnes wurde nach hinten gezogen. Je schneller Naisua auf sie zuging, desto schneller entfernte sich Agnes von ihr. Sie stieß einen lautlosen Schrei aus, aber Naisua konnte sie nicht erreichen. Sie rutschte rückwärts in einen Strudel, veränderte die Farbe von Silber zu Grau und dann zu Schwarz.
    Es blitzte und donnerte.
    Agnes war verschwunden.
     
    Die Hyäne blieb stehen, hob den Kopf und stieß ein drohendes Gackern aus. Naisua warf einen weiteren Stein nach ihr und traf abermals daneben. Die Hyäne war ihr die gesamten vier Stunden gefolgt, die sie brauchte, um über das flache Land zum Ufer des Mara-Flusses zu gelangen, wo sie jetzt stand. Die Trockenzeit hatte begonnen, und der Fluss hatte weniger Wasser, aber seine Strömung zum Viktoriasee hundert Meilen weiter im Westen war immer noch stark genug, um eine Überquerung schwierig zu machen.
    Die Hyäne war nur ein weiteres Ärgernis für Naisua. Sie war müde und nicht in der Stimmung für solche Begleitung. Den ganzen vorhergehenden Tag hatte sie sich gezwungen, weiterzugehen, und erst lange nach Einbruch der Dunkelheit Rast eingelegt, und auch das nur, weil sie beinahe in eine Herde schlecht gelaunter Büffel gestolpert wäre. Sie hatte frierend und unruhig auf einem Baum geschlafen. Die Träume, um derentwillen sie ihren Weg begonnen hatte, waren zurückgekehrt. Sie betete, dass es falsche Visionen gewesen waren, aber sie würde nicht ruhen, bevor sie Seggis
Enkang
erreicht und die Familie sicher und gesund wiedergesehen hatte.
    Sie war dem Fluss den ganzen Morgen gefolgt. Ausgelassene Flusspferde brüllten und schnaubten in den tieferen Tümpeln. Die Bullen kämpften mit Stößen ihrer massiven Kiefer ihre Revierkriege aus. Es war kein guter Zeitpunkt, in ihr Territorium einzudringen. Ein Stück weiter entfernt sonnten sich träge Nilkrokodile mit glasigen Augen am Ufer. Naisua entdeckte fünf von ihnen und stieß den Stock auf den Boden, damit sie in das seichte, schlammige Wasser glitten. Bald würde sie den Fluss überqueren müssen. Sie wählte eine Stelle, an der sich der Mara in einer lang gezogenen Biegung nach Süden wandte. Das alljährliche Hochwasser hatte Sand, Büsche, ja ganze Bäume in diese Biegung getrieben und dort abgelagert, so dass sie eine Reihe kleiner Inseln bildeten. Zwischen den Inseln verlief der Fluss durch schmale Kanäle mit starker Strömung. Von ein paar Warzenschweinen einmal abgesehen, die nervös am gegenüberliegenden Ufer tranken, waren keine Tiere in Sicht. Es war die beste Gelegenheit.
    Wasser in solcher Menge war Furcht erregend, aber Naisua hatte sich den ganzen Morgen auf die Überquerung vorbereitet. Es gab viel Treibholz, und sie hatte es zu einem Bündel gesammelt, das sie nun mit einer Lederschnur zu einem kleinen Floß zusammenband. Mit dem Wanderstab prüfte sie die Tiefe der ersten zögernden Schritte.
    Die Hyäne heulte eine letzte Beleidigung, dann schlich sie davon.
    Naisua schluckte angestrengt und gestattete sich ein triumphierendes Lächeln, als sie die erste Insel erreichte. Das Wasser war nicht über ihre Knie gestiegen.
    Der nächste, breitere Kanal wurde rasch tiefer, und bald schon musste Naisua ihr Floß benutzen, um den Kopf über Wasser zu halten. Ihre Kleidung trieb hinter ihr her und zog sie nach unten. Der Kanal war nur zwanzig Schritte

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