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Die Tränen der Massai

Die Tränen der Massai

Titel: Die Tränen der Massai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Coates
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ausgestreckt, die Arme um das Knie des anderen geschlungen. Dann stand er auf, fuhr mit der Hand über die nackte Kopfhaut und seufzte.
    Naisua lächelte und trat einen Schritt zurück, um ihn zu bewundern. »Du bist ein guter Mann, Seggi. Dein Vater wäre stolz, wenn er sehen könnte, wie sein einziger Sohn heute ein Ältester wird.«
     
    »Hhuunh-hah!« Krach. »Hhuunh-hah!« Krach. »Hhuuhn-hah!« Krach.
    Naisua beobachtete, wie Seggi über die tanzende Gruppe sprang wie ein Impala mit einem Speer im Leib. Ringsumher riefen die zweiundzwanzig Mitglieder seiner Altersgruppe ihre Bewunderung laut heraus, als jeder Sprung den vorangegangenen noch übertraf. Ihre frisch rasierten, rot bemalten Köpfe und die roten
Shukas
unterschieden sie von den anderen Männern, die sich in einem weiteren Kreis um sie versammelt hatten. Frauen und Kinder bildeten den äußeren Kreis, und hier stand Naisua mit den anderen stolzen Müttern, und ihr Lächeln fügte ihrem verwitterten Gesicht weitere Falten hinzu.
    Sie hatte zu dieser Gelegenheit ihren schönsten Schmuck angelegt. Das wichtigste Stück war ein breiter Perlenkragen in Rot, Grün und Blau mit weißem Rand. Es hatte Wochen und die neuesten Perlen von den Händlern von der Küste gebraucht, um den Kragen zu vollenden. Die Perlen waren jetzt bunter als in ihrer Jugendzeit, aber kleiner, so dass die Arbeit ihre schlechter werdenden Augen anstrengte. Aber dieser Kragen war ihr bisher bester.
    In Naisuas Leben hatte es wenig Gelegenheiten für solche Eitelkeit gegeben. Aber sie wusste, ihre Perlenhandarbeit war hervorragend, denn sie war die Erste gewesen, die solche Perlen für ihren Schmuck benutzte, und fand immer neue Möglichkeiten, die Arbeit zu verbessern. In den frühen Tagen hatte ihr Bruch mit der Tradition die Frauen ihres Stamms schockiert – nicht nur in ihrem Dorf, sondern auch in den Nachbardörfern. Nun kamen Besucherinnen zu ihr in die Loita-Hügel, um ihre Arbeit zu studieren, und baten sie, ihnen beizubringen, wie man solche Dinge anfertigte. Es hatte nicht lange gedauert, bis das ganze Massailand die alten Eisenperlenbänder aufgab und Naisuas Vorbild folgte.
    Sie hatte jetzt auch neue Ohrringe, konnte aber die älteren nicht ablegen. Also trug sie ein Dutzend, neue und alte, und sie zogen schwer an den großen Löchern in den Ohren. Als Zeichen des Respekts hatte sie auch die alten Eisenarmbänder angelegt, die ihre Großmutter ihr vor ihrem Tod gegeben hatte. Kupferspiralen – die Beute aus Seggis Überfällen auf die Eisenbahntelegrafenlinien – hingen an einer Perlenschnur um ihre Taille. Weitere dreißig Pfund Kupfer umgaben ihre Unterschenkel. Dieses Gewicht machte es schwer, sich schnell zu bewegen, hinderten Naisua aber nicht daran, den Gesang der Mütter anzuführen. Ihre Stimmen lagen im Wettstreit mit den Rezitationen des Kreises der Männer.
    »Hhuunh-hah!« Krach.
    Seggi schoss nach oben wie ein Pfeil, hoch und gerade, schien dann einen Augenblick in der Luft zu hängen und drehte den Kopf. Seine Freunde johlten ermutigend. Beim nächsten Sprung wiederholte er die Bewegung, aber mit einem Zucken, das sich durch seinen schlanken Körper zog, bevor er wieder am Boden aufkam und kleine Staubexplosionen in die Luft entsandte. Er schwitzte, aber er schien nicht schwächer zu werden. Schließlich trat ein anderer in die Mitte, und Seggi zog sich in den Kreis lachender, tanzender junger Männer zurück.
    1950
    Naisua lauschte mit dem Geist. Mit geschlossenen Augen hielt sie die kleinen Steine zwischen den Handflächen und ließ sie über dem schwelenden Feuer rasseln.
    Sie hörte Stimmen, zunächst nur schwach. Sie summte ihr leises Willkommenslied.
    »Geist von Mbatian, komm. Hmm-ah.
    Geist von Mweiya, komm. Hmm-ah.
    Geist von Lenana, komm. Hmm-ah.«
    Sie tastete nach der Schale mit zerdrückten Wurzeln an ihrem Knie und streute sie ins Feuer.
    »Geist von Mbatian, komm. Hmm-ah.
    Geist von Mweiya …«
    Ein hoher Ton erfüllte ihren Kopf. Es hätte das Kreischen einer schwarzen Gabelweihe sein können, obwohl es lauter war und eher menschlich; aber keine menschliche Stimme konnte ein solch vibrierendes Geräusch erzeugen. Es war ein Teil von ihr, und dennoch kam es von außen, füllte die Leere in ihrem Geist, die sie dafür vorbereitet hatte. Ihre Hände und Füße begannen zu kribbeln, ihr Körper zitterte.
    Eine Vision bildete sich heraus, ein riesiger Silbermond, der glitzernden Regen auf die Felsen oberhalb des
Enkang
ihres Sohns fallen

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