Die Tränen der Massai
Onditi: selbstsicher bis zur Arroganz. Ihre Nation war durch die Anwendung roher Gewalt geschmiedet worden. Es galt als nobel, um das zu kämpfen, was man wollte. Außer, wenn man eine Frau war. Von Frauen erwartete man, dass sie wussten, wo ihr Platz war, nämlich unter dem Mann – sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinn.
Malaika hielt es für falsch, dass den Frauen so viele Grundrechte verweigert wurden, während afrikanische Männer offenbar nichts falsch machen konnten. Selbst das Gesetz neigte dazu, sie zu begünstigen. Es geschah selten, dass eine geschiedene Frau das Sorgerecht für ihre Kinder erhielt.
Nervös nestelte sie am Stoff der Bettdecke herum. Die Decke war in einer neutralen Farbe gehalten. Als sie sich umsah, bemerkte sie, dass der gesamte Raum diese Neutralität ausstrahlte. Bei solch schlichter Ausstattung konnte man nicht von afrikanischem Stil sprechen. Es war auch nicht europäisch. Oder indisch. Wenn man sie in diesem Zimmer abgesetzt hätte, ohne sie wissen zu lassen, wo sie war, hätte sie überall sein können. Dieser Raum hatte nichts Charakteristisches. Er hatte keine Wurzeln. Keine Vergangenheit.
Solange sie sich erinnern konnte, hatte auch sie versucht, diese Art von Anonymität zu erreichen. Sie wusste, warum. Die Ereignisse ihrer Kindheit waren so unerträglich schmerzhaft, dass sie kaum glauben konnte, dass sie wirklich geschehen waren. Ihre Verteidigung bestand darin, sie zu vergessen.
Das einzige Massaikind in der Schule in Mwanza zu sein hatte sie zum Opfer aller möglichen Vorurteile gemacht. Später hatte es sie sehr deprimiert, ihr Zuhause ohne den Segen ihrer Mutter verlassen zu haben. Und obwohl ihr Stiefvater versuchte, ihr in Nairobi einen guten Start zu verschaffen, hatte auch das nur zu weiterem Unglück geführt. Was dort geschehen war, hatte Malaikas Selbstvertrauen erschüttert und ihr ein tiefes Misstrauen gegen alle Männer eingeprägt. Es hatte sie darin bestätigt, sich von ihrem Zuhause und der Familie fern zu halten; lange Zeit hatte sie sich geschämt, ohne genau zu wissen, wofür. Aber sie war darüber hinweggekommen. Es half nichts, in dieser Leere zu verharren.
Jai war der einzige Lichtblick dieser ersten Tage in Nairobi gewesen, aber bald war auch er gegangen.
Die große Stadt hatte Malaika keine Zugeständnisse gemacht. Eine Frau, die beruflich etwas erreichen wollte, und noch dazu eine Massaifrau, war eine Ausnahme, die man nicht unterstützte.
Als sie bei AmericAid angefangen hatte, hatte sie auch begonnen, sich selbst neu zu erfinden, hatte alle Gedanken an das Leben, das sie in Mwanza und zuvor in den trüben, dunklen Nischen des Dorfs ihrer Familie zurückgelassen hatte, weit weggeschoben. Sie hatte ihre Massaiherkunft verleugnet und war zu einem anderen Menschen geworden.
Malaika fragte sich, ob die Dinge anders verlaufen wären, wenn sie jemanden kennen gelernt hätte, nachdem Jai nach dem Abschluss in Amerika geblieben war und dort eine neue Liebe gefunden hatte. Seine Abwesenheit hatte eine Leere in ihrem Herzen hinterlassen, aber ihr war später klar geworden, dass sie mehr um einen verlorenen Seelengefährten als um einen Geliebten getrauert hatte.
Aber obwohl sie in manchen Nächten von dem unwiderstehlichen Wunsch getrieben wurde, sich dort zu berühren, wo Jai sie berührt hatte, obwohl sie sich zutiefst wünschte, sich wieder so lebendig zu fühlen wie mit ihm, und obwohl sie sich nach der Freude sehnte, die sein glatter brauner Körper ihr geschenkt hatte, konnte sie sich nicht überwinden, die ersten Schritte zu unternehmen, um das Gleiche bei einem anderen Mann zu finden.
Ach, die Zeit würde dieses Problem schon lösen. So war es auch in der Vergangenheit gewesen.
Sie zog das Kleid über ihre schwarze Unterwäsche und knöpfte es zu. Die Zimmerservice-Speisekarte stand neben dem Radiowecker. Es war 17.45 Uhr, und Malaika hatte Hunger. Nach dem Vorfall im Zug stellte sich die Frage, wo sie zu Abend essen sollte, nicht mehr: Sie hatte häufig ähnlich aufdringliche Männer abwehren müssen, wenn sie allein in Hotelrestaurants gegessen hatte. Also beschloss sie, sich etwas aufs Zimmer zu bestellen, aber bevor sie sich mit einem Buch und
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zurückzog, würde sie sich noch überzeugen, dass der Konferenzraum für den nächsten Morgen bereit war. Sie warf die Speisekarte aufs Bett und verließ das Zimmer.
Eine Busladung Touristen drängte sich um den Empfangstisch, also sah Malaika sich in der Lobby um. Sie
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