Die Tränen der Massai
sprichst von Scham? Wenn sich hier jemand schämen sollte, dann du. Sieh dich doch an! Du wirst deine Schulden bezahlen. Oder ich nehme dir dein Vieh. Deine Tochter kann von mir aus unverheiratet bleiben. Ich habe genug von dir.«
Er packte Seggi am T-Shirt. Seggi wich zurück. Mengoru hielt abrupt inne und ließ das Hemd wieder los. Seggi sackte erneut gegen die Wand, den Arm immer noch erhoben, um mögliche Schläge abzuwehren.
Mengoru starrte auf ihn nieder und kaute auf der Innenseite seiner Wange. Er nahm einen Lappen aus der Tasche und wischte sich die Stirn, bevor er den Hocker wieder hinstellte. »Mein Freund«, sagte er und half Seggi auf. »Zwischen Freunden ist solches Verhalten unnötig. Wir sind wie Brüder, du und ich.«
Seggi nickte und blinzelte mit den wässrigen Augen.
»Wie lange sind wir jetzt schon Freunde? Ich möchte Penina einfach nur zu meiner Frau machen, damit ich für sie sorgen kann. Ich will für euch alle sorgen. Verstehst du das?«
»Mein Vieh …« Seggis Mund blieb offen, und ein Speicheltropfen hing an seiner Unterlippe. »Du wirst mir doch mein Vieh nicht nehmen, Mengoru?«
Mengoru setzte sich wieder. »Solche Unannehmlichkeiten sind unter Freunden unnötig. Ich werde für dich sorgen. Wie es ein guter Schwiegersohn tun sollte.« Sein Lächeln hätte liebenswert sein sollen. Der Goldzahn fiel in der schiefen, verfärbten Zahnreihe deutlich auf.
»Ich bin nämlich ein Kidongi … ich bin der
Laibon
… ich …«
»Selbstverständlich. Nach der Hochzeit wird deine Schuld beglichen sein. Dein Vieh ist sicher in deinem
Boma.
Alles wird gut werden.« Mengorus dünnes Lächeln entgleiste zu einem angewiderten Grinsen, als Seggi ihn anschaute.
»Oh, das Summen in meinem Kopf!« Seggi fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und rieb sich die Augen. »Dieser
Changaa
ist stark, wie?« Sein nervöses Lachen zeigte, wie erleichtert er war.
»Ich bin froh, dass wir uns einig sind«, sagte Mengoru. »Ich werde alles organisieren.« Er stand auf und warf ein paar Münzen auf den Tisch. »Hier, mein Freund. Du kannst mit
Chang’aa
feiern.
Kwaheri!«
Mengoru rollte das Hosenbein wieder hoch, klappte den Fahrradständer zurück und schwang das Bein über den Sattel. Er lächelte, als er die Narok-Straße entlangfuhr. Insgesamt war es gut gelaufen. Die Faust hatte bei dem alten Mann gut funktioniert. Er hatte es nicht erwartet, sonst hätte er es schon vorher probiert.
Ja, die Dinge nahmen langsam Gestalt an. Als Ehemann einer Frau aus dem Kidongi-Klan war er einen Schritt näher an der Herrschaft. Mit Penina würde er einen ganzen Block von Stimmen beherrschen. Die Leute in Nairobi würden auf ihn aufmerksam werden. Männer an der Spitze würden Notiz von ihm nehmen, vielleicht sogar Kenyatta. Die Leute würden ihn kennen. Wichtige Leute. Er würde in der Partei aufsteigen.
Die Unabhängigkeit stand kurz bevor, und wenn sie die Weißen erst rausgeworfen hatten, würde Mengoru bereit sein.
Seggi stolperte den Weg von Patel’s
Duka
zum Dorf entlang und murmelte im Dunkeln vor sich hin. Mengoru hatte ihn wieder einmal betrogen. Er war jetzt schon zwei Monate mit Penina verheiratet und hatte immer noch keinen Brautpreis gezahlt.
»Ngai!«,
schimpfte Seggi. »Ein Brautpreis muss bezahlt werden, sonst bringt es Unglück.«
Mengoru hatte auch behauptet, sie hätten nie ein Übereinkommen gehabt, dass er Seggi seine Schulden erlassen würde. Seggi war vollkommen sicher, dass das zu den Vereinbarungen gehört hatte. Aber vielleicht hatte er sich wieder einmal geirrt. Die Traditionen des Stammes waren allerdings etwas anderes. Er hatte Mengoru gewarnt, dass seine neue Position im Klan nicht bedeutete, die Entscheidungen der Ältesten ignorieren zu können.
Er murmelte: »Ich werde wegen dieser Sache die Ältesten zusammenrufen.«
Das Knacken eines Zweigs neben dem Weg ließ ihn innehalten.
»Sopa?«
Er rief einen Gruß.
»Habari?«
Die Nacht war still. Seggi wartete einen Augenblick, dann stolperte er weiter, immer noch vor sich hin murmelnd. »Nicht richtig … den Rat zusammenrufen …« Er blieb am Bach stehen. Das Geräusch war jetzt hinter ihm. »Wer ist da?«
Der Halbmond tauchte hinter einer Wolke auf, als Seggi begann, sich über die Steine seinen Weg zu suchen. Ein Schatten fiel über ihn. »Mengoru!«
1971
Es war die Jahreszeit des kurzen Regens, die sechste, seit Malaika Kidongi zur Welt gekommen war, und die siebente, seit man ihren Großvater Seggi Kidongi,
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