Die Tränen der Massai
den
Laibon
des Klans, ertrunken im Bach hinter dem Dorf aufgefunden hatte.
Das
Enkang
war in dieser Zeit gewachsen. Nicht, dass es allgemeinen Wohlstand gab – viele ältere Klanmitglieder konnten sich an bessere Zeiten erinnern, sogar an Gelegenheiten für Gesang und Tanz –, aber es ließ sich nicht abstreiten, dass die Herden von Isuria stetig gewachsen waren, besonders die des großen Manns im Dorf, Mengoru, der sich nur selten im
Enkang
sehen ließ und sich nie selbst um seine Herden kümmerte. Er war imstande, einem geschickten Hirten ein kleines Gehalt zu zahlen, vielleicht ein Lamm oder sogar ein Kalb, damit dieser sich eine Jahreszeit um sein Vieh kümmerte.
Die jüngere Generation bezweifelte, dass Isuria je so etwas wie Wohlstand oder gute Zeiten gesehen hatte. Nicht wie in den Städten, wo es so viele Dinge zu sehen und zu tun gab. Ein junger
Morani
aus Isuria legte gern den Drei-Stunden-Weg nach Narok zurück, um staunend Zeuge der alltäglichen Ereignisse des Stadtlebens zu werden.
Da gab es die
Wahindi,
die indischen Ladenbesitzer wie Patel, dem nicht nur die
Duka
nahe dem
Enkang
gehörte, sondern auch ein Kurzwarengeschäft in der Stadt, in dem es alles Mögliche zu kaufen gab: Bänder, Spitze und bedruckte bunte Stoffe, Wolle, Baumwollfäden und Nadeln.
Ein anderer war Biram Singh, ein hoch gewachsener Mann, der wie ein Rausschmeißer am Eingang seines Lebensmittelladens stand und potenzielle Kunden nach drinnen winkte. Eine uralte doppelläufige Schrotflinte stand in einer Ecke am Ende der hohen Theke. In Singhs Laden gab es eine seltsame Ansammlung von bunten Süßigkeiten, Pulver aus getrockneten Blättern und Wurzeln, schwarzen und grünen Tee und Kaffeebohnen in gemusterten Glasbehältern. Sie waren wie ein Regiment der Größe nach aufgestellt und füllten Regal um Regal von der Theke bis zur Decke. Es gab auch Dosen – runde Dosen, eckige Dosen, ovale Dosen, Dosen mit goldenen und silbernen Bildern wunderschöner Frauen und Gebäude, Dosen mit seltsamen Symbolen und Schnörkeln.
Und dann war da noch Suddho, der Vieh- und Getreidehändler, der eine vergnügte fette Frau hatte und einen wütenden Blick für jeden, der sie zweimal ansah.
Wenn die Ladenbesitzer in einer Stadt keine Inder waren, dann waren es Kikuyu wie Kamau, der inmitten eines riesigen Fliegenschwarms Fleisch verkaufte. Er hatte gutes Ziegenfleisch und Hammel, lilarot mit großzügigen Fettstreifen. Die besten Stücke hingen draußen über flachen Behältern mit blutigen Innereien.
Die jungen Männer aus Isuria schlenderten mit wehenden roten Umhängen und verlegenem Lächeln in die Stadt. An Straßenecken standen sie in Gruppen zu sechst oder acht, starrten die Passanten an und kicherten und flüsterten miteinander. Sie standen dort stundenlang und versuchten, die Mädchen zu beeindrucken, die ihr Lächeln hinter einer Hand vor dem Mund verbargen. Es war nur wenigen Massaimädchen erlaubt, in die Stadt zu gehen, so dass ein hoch gewachsener Massaijunge vielleicht Gelegenheit erhielt, mit einer jungen Luo zu flirten. Am späten Nachmittag mochte es dann so weit sein, dass Seitenblicke durch ein Lächeln ermutigt wurden, und nach Einbruch der Dunkelheit machten die jungen Leute ihre ersten zögernden Schritte aufeinander zu. Und die Nächte … oh, die Nächte in Narok waren für die jungen Männer aus Isuria das Beste!
Naisua sang ein altes Lied, als sie die Hütte ihrer Enkelin betrat. Sie hatte eine Milchkalebasse und ein paar Stücke Holz dabei. Am Feuer setzte sie sich langsam auf den Hocker und seufzte. Sie grüßte Penina, die auf den Hacken am Feuer saß und lustlos in einem Topf mit Blattgemüse rührte. »Danke für das Holz, Großmutter«, sagte sie, schaute die alte Frau aber nicht an.
»Hm«, antwortete Naisua. »Du versuchst, deine blauen Flecken vor deiner
Kokoo
zu verbergen. Erwarte ich sie nicht jedes Mal, wenn er im
Enkang
gewesen ist? Lass mich –«
Penina unterbrach sie. »Hast du den Jungen da draußen gesehen?«
»Ja, dein Sohn steht Wache wie ein kleiner
Morani«,
sagte Naisua lachend. »Endlich kann er sich wie ein echter Massaihirte fühlen. Oh, man konnte ihm ansehen, dass er mit den Schafen nicht glücklich war. Aber jetzt hat er seine erste Rinderherde, und …« Als sie lächelte, verbanden sich die vielen Falten, die von ihrem Mund ausgingen, mit denen an ihren Augenwinkeln. »Sein Speer ist größer als er selbst. Und solch eine Furcht erregende Miene. Oh-oh! Er erwartet
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