Die Tränen der Massai
Dornenbusch inne und witterte, den winzigen Vorderhuf leicht erhoben. Einen Augenblick später sprang er hinter seiner Gefährtin ins Gebüsch und war nicht mehr zu sehen.
Als Mengoru näher zur
Duka
kam, konnte er durchs Fenster bereits erkennen, dass Seggi mit gesenktem Kopf an seinem üblichen Tisch saß. Dieser Tisch hatte den Vorteil, dass der nach oben geklappte Fensterladen ihm Schatten spendete und vom Tal aus hin und wieder ein wenig Luft hereinwehte. Vor Jahren hatte er immer hinten in der
Duka
gesessen, an einem Tisch neben der Theke, weit entfernt von der Helligkeit. Niemand wusste, wieso er sich einen anderen Platz gesucht hatte, aber dieser Tage saß an seinem alten Tisch die alte Prostituierte aus Buka. Sie hustete und spuckte und nippte an ihrem Getränk, wenn sie eines hatte, und sprach jeden an, der hereinkam. Sie verlangte nicht viel, nur eine Zigarette oder ein Glas
Chang’aa.
Seggi trug eine schmutzige rot-blau karierte
Shuka
und ein ausgebleichtes rotes T-Shirt mit einem Bild von Palmen am Ozean und dem Schriftzug
Plaza Hotel – Mombasa
auf der Rückseite. Er ließ sich selten ohne dieses Hemd sehen, außer wenn seine Mutter Naisua es ihm abnehmen konnte, um es zu waschen und zu flicken.
Mengoru stieg ab, klappte den Ständer von der Hinterradgabel und lehnte das Fahrrad vorsichtig darauf. Er stützte den rechten Fuß auf das verrostete Fass neben dem Eingang, rollte die Hosenaufschläge hinunter und zupfte sein Hemd zurecht.
Von der Tür aus nickte er Maina zu, dann beugte er sich über Seggi, der einen leeren Emaillebecher in den Händen hielt.
»Jambo,
Seggi.«
Seggi hob den Kopf, sah Mengoru aus blutunterlaufenen Augen an und senkte den Kopf dann wieder. Als er ihn erneut hob, bedachte er Mengoru mit einem vagen Lächeln.
»Sopa,
Mengoru«, sagte er mit schleppender Stimme. »Mein Freund. Setz dich. Hier, setz dich.« Er zeigte auf die andere Seite des Tischs.
Mengoru zog den Hocker unter dem Tisch vor. »Maina!
Chang’aa!
Und ein Tusker für mich.
Tafadhali!«
»Aha.« Seggi lachte wehmütig. »Billiger Whisky für Seggi und Bier für Mengoru. Ha!« Er schüttelte leise lachend den Kopf. »Tusker-Bier.
Tafadhali, Bwana!«,
äffte er Mengorus hochnäsigen Swahili-Akzent nach. Mengoru fand das nicht komisch. Seggi fuhr fort. »Tusker-Bier für den
Bwana. Chang’aa
für den
Mzee.
Ai, ai, ai.«
Mengoru saugte an der Innenseite seiner Wange und reagierte nicht auf den Spott. Seggi wurde langsam unangenehm. Einen Augenblick war er freundlich, sogar vernünftig, und im nächsten mürrisch oder streitsüchtig. Nach ein paar Gläsern – zwei, fünf, zehn, wer wusste das schon? – wurde er weinerlich, oder, noch schlimmer, er verlor einfach das Bewusstsein. Wie auch immer, wenn es so weit kam, war Seggi nutzlos für ihn.
Maina stellte die Bierflasche vor Mengoru auf den Tisch und schnippte den Deckel ab. Dann goss er aus einer braunen Flasche klare Flüssigkeit in den Becher und verschüttete dabei ein wenig Bier auf den Tisch und Seggis Finger, die dieser immer noch fest um den Becher presste. Seggi trank einen Schluck von dem Gebräu. Seine Augen wurden feuchter, drohten überzufließen. Er unterdrückte ein Husten, dann schniefte er laut. Mengoru, ihm gegenüber, trank warmes Bier aus der Flasche und rechnete nach, wie alt Seggi sein musste.
Neunundvierzig.
Es war kaum zu glauben. Er sah aus wie neunundsechzig. Als Mengoru kaum das Teenageralter erreicht hatte, war Seggi
Morani
gewesen. Einer der besten. Von diesem Mann war nichts übrig geblieben. Keine Spur mehr von der Eleganz und Kraft in der lang gezogenen Kinnlinie. Sie war nun schlaff und schwach. Die schmale Nase war von zahllosen Stürzen lädiert. Seggis Haut war trocken und bleigrau. Wie er da auf seinem Hocker zusammengesackt saß und schweigend in den Becher spähte, sah er aus wie ein Geizhals, der seinen Geldbeutel umklammert. Gelbliche, blutunterlaufene Augen spähten missmutig aus tiefen Höhlen, und seine Kopfhaut, die als Zeichen seiner Stellung stolz glatt rasiert sein sollte, war ein wirres Muster aus Stoppeln und Schuppen. Insgesamt, stellte Mengoru fest, wirkte Seggi wie ein Marabu, einer dieser hässlichen Aasfresser, die immer auf Müllhalden hockten. Plötzlich wusste er nicht mehr, ob seine Idee wirklich so gut war, aber er war mit seiner Geduld am Ende. Er würde das Thema auf jeden Fall anschneiden.
»Nun, Seggi, hast du über mein Angebot nachgedacht?«
Seggi leerte den Becher und ignorierte die
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