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Die Tränen der Massai

Die Tränen der Massai

Titel: Die Tränen der Massai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Coates
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rührte langsam. Malaikas Erscheinen hatte eine Frage aufgeworfen, die seit einiger Zeit in ihren Gedanken lauerte.
»Kokoo,
warum werden wir Massaifrauen beschnitten?«, fragte sie.
    »Oh! Mein Kind, was für eine Frage.«
    »Ich erinnere mich nur an die Schmerzen.« Der Tag ihrer Beschneidung hatte sich deutlich in ihr Gedächtnis eingeprägt. Sie hatte an einer weit entlegenen Stelle ihres Kopfs einen Schrei gehört und sich gefragt, wer oder was einen solch wilden, tierischen Laut von sich geben konnte. Einen Augenblick hatte sie das aus dem Schmerz herausgehoben, der jeden Teil ihres Körpers durchdrang, und als sie sich darauf konzentrierte, hatte sie erkannt, dass es ihr eigener Schrei gewesen war. Sie konnte nicht glauben, dass sie imstande gewesen sein sollte, ein solches Geräusch hervorzubringen – ein lästerliches, ungezähmtes, fremdes Ding. Aber es war tatsächlich ihr Schrei gewesen.
    Als Naisua sich wieder gefasst hatte, sagte sie: »Ich habe die gleiche Frage gestellt, als ich in deinem Alter war. Als es wichtig war. Die Antwort lautet: Es ist normal. Das hat man mir jedenfalls gesagt. Oh, und: Es war von Anfang an so.«
    »All meine Freundinnen und meine Cousinen sagen das Gleiche.« Penina erinnerte sich, wie eine Cousine ihr erzählt hatte: »Ich konnte nicht glauben, dass etwas so wehtun kann. Selbst meine Ohren und Augen haben wehgetan.« Und eine Tante hatte sie gewarnt: »Du solltest lieber hoffen, dass sie gleich bei den ersten Schnitten alles erwischt, denn sonst wird sie dich wieder schneiden müssen.«
    »Aber wozu ist es gut?«
    »Vielleicht gefällt es den Vätern, bei den alten Sitten zu bleiben. Mütter wollen, dass ihre Töchter einen guten Mann finden. Männer wollen nicht, dass ihre Frauen anders sind. So viele Dinge. Wer kann schon alle Gründe kennen?«
    »Aber warum haben sie damit angefangen?«
    »Das weiß niemand. Niemand hat uns einen Grund genannt. Es geschieht einfach.« Naisua schüttelte den Kopf. »Als ich meine Mutter fragte, erzählte sie mir die Geschichte eines unserer Ahnen, dessen Frau mit einem Mann von einem feindlichen Stamm davongelaufen ist. Sie hat sich verliebt und den Stamm verraten, indem sie dem Feind von den Schwächen des Stammes erzählte. Die Feinde haben angegriffen und die Massai besiegt. Seit dieser Zeit haben die Männer den Frauen nie wieder vertraut, und sie beschneiden sie, damit sie nicht davonlaufen.« Sie seufzte. »Aber das ist nur eine Legende.«
    Penina dachte einen Augenblick nach. »Einige sagen, es ist danach nicht so angenehm, bei einem Mann zu liegen. Nicht wie damals bei den Liebesspielen mit den
Moran,
als wir noch jung waren. Nun ja, mir hat es mit Mengoru nie gefallen, aber er … ist es dasselbe, Großmutter?«
    »Jetzt bittest du eine sehr alte Frau, sich an die Kinderspiele vor so vielen Jahren zu erinnern!« Sie wandte sich dem Feuer zu.
    »Es gibt Dinge, die man nicht vergisst.«
    Naisuas Augen waren schwarze Teiche, in denen das Spiegelbild roter Kohlen glühte. Sie lächelte. »Ja, das ist wahr. Einiges vergisst man nicht.«
    »Und, ist es das Gleiche?«
    Naisua zuckte die schmalen Schultern. »Ja, ich erinnere mich an die Freuden dieser Liebesspiele. Wir
Entitos
warteten, bis es dunkel war, und schlichen uns dann ins
Manyatta
unseres Freundes. Das war eine glückliche Zeit. Wir hatten die Pocken hinter uns, und die Herden waren wieder gewachsen. Wir hatten genug zu essen. Und die
Moran
waren schlank und muskulös und so schön und stolz.« Feuer stand in Naisuas Augen, und ein schüchternes Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel.
    Penina bemerkte das Glasprisma in den Händen ihrer Großmutter. Im trüben Licht der Hütte sahen Naisuas Hände jünger aus – die Hände eines Mädchens, die noch nicht von Dornen und splitterndem Feuerholz aufgerissen oder von Jahren der Arbeit mit den Tierhäuten wie gegerbt waren.
    Naisua hob ihren Sonnenstein an die Wange. »Ich erinnere mich an einen Mann … wir sind uns lange nach meiner Beschneidung begegnet. Nachdem dein Großvater gestorben war. Ein Mann, der von weit, weit her kam. Stark und stolz. Er sprach wenig, aber wenn er es tat, hörten die anderen Männer zu. Und er war sanft. So liebevoll. Oh, dieses Lächeln ließ mein Herz vor Freude singen! Ich erinnere mich daran, wie wir auf seinem Pferd über die Ebene von Laikipia geflogen sind, den Wind im Gesicht.
    Unsere Zeit zusammen war stets kurz. Er hatte eine Frau in Nairobi und seine Arbeit. Es war die Zeit, in der wir

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