Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
gleich auf den Weg.«
Ihr blieb also nichts anderes übrig, als sich bei der Frau zu bedanken und ihre Suche fortzusetzen. Da fiel ihr plötzlich ein, wie sie damals im Norden nach Jacquou gesucht hatte und dabei von ihrem Schwiegervater Coëtivy verfolgt worden war. Sie erinnerte sich auch wieder an ihre erste Begegnung mit Mathias und an seine Berichte, wie er als junger, unbekümmerter Mann auf der Suche nach ein bisschen Arbeit endlos umhergeirrt war. Im Gegensatz zu Leo, der sich nur darauf verstand, Schiffsladungen zu löschen und Pferdewagen zu lenken, konnte Mathias eigentlich alles.
Die Bäuerin hatte recht. Es war bestimmt keine schlechte Idee, bei den Hafenarbeitern nachzufragen.
Also ließ sie Jason zum Hafen laufen, irrte aber mehrere Stunden auf dem Gelände umher, ohne Mathias zu finden. Dabei hätte es doch sehr gut sein können, dass er dort auf einem Poller am
Wasser saß und in Gedanken versunken den Blick in die Ferne schweifen ließ.
Obwohl sie außer sich vor Angst war, erlebte sie doch wie im Traum noch einmal ihren eigenen Weg – von dem kleinen Waisenmädchen, das ihre Mutter Freundinnen anvertraut hatte, bis zu dem Entschluss, im Val de Loire zu bleiben und dort mit Jacquou eine Existenz zu gründen.
Das Mittagsläuten der Turmuhr am Hauptplatz holte sie wieder in die Gegenwart zurück, und sie raffte sich auf, um die Stadt weiter nach ihrem Gefährten abzusuchen. Sie versuchte sich selbst zu überzeugen, dass Mathias den kleinen Nicolas nie einfach so zurücklassen würde, was ihr wenigstens ein kleiner Trost war.
Bei dem Gedanken schöpfte sie wieder einen Funken Hoffnung und machte sich auf den Weg zu den Hallen am Marktplatz, als ihr plötzlich eine Idee in den Sinn kam.
Vielleicht hatte sich Mathias in die Kirche Saint-Pierre geflüchtet, dorthin, wo er Florine begraben musste, als sie bei der schrecklichen Pest gestorben war? Bestimmt würde sie ihn dort finden.
Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, lenkte Alix Jason zu dem Platz vor der großen Kirche.
Rund um Saint-Pierre herrschte geschäftiges Treiben. Es war heller Tag, und jeder ging seiner Arbeit nach. Viele kleine Läden schmiegten sich an die Kirchen Saint-Pierre und Saint-Martin und lockten einen nicht enden wollenden Strom von Kaufleuten, Passanten, Pilgern und Prälaten an.
Alix band Jason sorgfältig an einem Steinpfeiler fest, betrat die Kirche durch das Hauptportal und ließ den hektischen Trubel draußen. Hier war es ganz still, und das gewaltige Längsschiff mit den Holzbänken auf beiden Seiten, die nach frischem Wachs dufteten,
schien sie zu ein paar Minuten der Ruhe und Erholung einladen zu wollen.
Unschlüssig stand sie vor dem Chorraum und fragte sich, was sie tun sollte, als ihr plötzlich klar wurde, dass sie seit dem frühen Morgen keinen Schritt weitergekommen war. Zu Julio hatte sie ohnehin gesagt, dass sie wahrscheinlich erst bei Einbruch der Dunkelheit zurück wäre.
»Alix!«, hörte sie da plötzlich jemand hinter sich sagen, als sie gerade zur Sakristei gehen wollte, um sich nach Mathias zu erkundigen.
Sie drehte sich um. »Bruder André!«, rief sie freudig überrascht und warf sich ihm an den Hals. Domherr Mirepoix drückte sie mit seinen kurzen, aber kräftigen Armen so fest an sich, dass sie beinahe keine Luft mehr bekam.
»Oh, Bruder André, bin ich froh, dass ich Euch treffe! Was macht Ihr denn hier?«
Aber anstatt ihre Frage zu beantworten, suchte er lieber nach einem Anknüpfungspunkt in der Vergangenheit.
»Bruder André!«, wiederholte er vorwurfsvoll, »nanntet Ihr mich nicht André, als Ihr nach Italien aufgebrochen seid?«
»Das ist ja schon so lange her«, seufzte sie nur.
»So lange her! Warum seid Ihr denn in solch düsterer Stimmung, Alix? Le Viste junior hat mir doch erzählt, dass Ihr Eure Lizenz bekommen habt. Meinen Glückwunsch!«
»Hat er Euch auch erzählt, unter welchen Umständen die Abstimmung entschieden wurde?«
»Bis ins kleinste Detail! Mein Gott, wie gerne wäre ich dabei gewesen! Ich hätte Kardinal Jean de Villiers sofort Rückendeckung gegeben.«
Da musste Alix trotz ihrer Angst um Mathias lächeln.
»Die ganze Situation war mehr als bedrohlich. Wie ein Orkan,
ein Wirbelsturm, ach, was sage ich, wie ein Erdbeben kam es mir vor! Wärt Ihr auch noch da gewesen, hätte das wahrscheinlich den Weltuntergang bedeutet.«
»Ach was! Aber ich hätte mit diesem alten La Tournelle kurzen Prozess gemacht und dem Erzbischof von Reims den Mund gestopft –
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