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Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)

Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)

Titel: Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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bitte dich. Sonst
müsste ich dich auch noch nach deinen anderen Maitressen fragen. Lieber bleibe ich im Ungewissen. Ich will die Gerüchte vergessen, die über dich in Brügge kursieren. Wie sollte ich denn mit diesen Behauptungen umgehen? Soll ich sie für Verleumdungen, üble Nachrede oder aber die Wahrheit halten? Ich will es gar nicht wissen. Reden wir nicht mehr darüber, und vertrau mir einfach. Ich schwöre dir bei meinem verstorbenen Gatten, dass ich dich nicht betrüge.«
     
    Am nächsten Morgen herrschte wieder so dichter Nebel, dass alle das Gefühl hatten, sie befänden sich auf einer verlassenen Insel in einer lebensfeindlichen Welt.
    Alessandro und Alix verbrachten den Vormittag in ihrem Zimmer, während die Comtesse d’Angoulême früh aufgestanden war und Charles ausschlafen ließ, weil sie mit ihrer Tochter sprechen wollte.
    Marguerite plauderte in der Bibliothek mit dem alten Astrologen Agrippa.
    Man konnte sich nicht vorstellen, dass es jemanden gab, der noch älter war als er. Im Schloss war er jedenfalls der Älteste. Er aß und trank wenig, hielt sich aber noch immer aufrecht und war gut zu Fuß. Nach wie vor beobachtete und befragte er die Sterne, die ihm Antworten auf seine Fragen gaben, aber er stellte nur noch selten Horoskope und hütete lieber seine Geheimnisse nach einem langen Arbeitsleben.
    Wie die meisten Greise seines Alters hatte er einen kantigen Schädel und ein ausgezehrtes Gesicht mit einem spitzen Kinn, auf dem sich ein paar einzelne Barthaare in den tiefen Falten verloren.
    Seine Augen hatten keine Farbe mehr, so weit weg waren sie bereits. In dunklen Augenhöhlen und unter welken Lidern verborgen erinnerten sie an ein Stück Himmel, das sich nicht zwischen
Tag und Nacht entscheiden konnte. Wenn Agrippa einen direkt ansah, schimmerten sie sonderbar nach einem Funken Lebens, wie man ihn auf der Erde und nicht am Himmel findet.
    Seine bleichen, blutleeren Lippen öffneten sich nur noch ganz selten, wenn ihn Louise um eine Prophezeiung bat.
    Wie oft hatte der alte Agrippa die Comtesse d’Angoulême schon von ihren Seelenqualen befreit, indem er ihr versicherte, dass Königin Anne niemals den ersehnten Thronfolger bekommen würde? Seit der damals noch viel jüngere Agrippa zum ersten Mal die Weissagung des alten Mönchs bestätigt hatte, zweifelte Louise nicht mehr daran, dass ihr Sohn eines Tages zum König geweiht würde.
    Sie glaubte an ihren Astrologen wie sie an Gott glaubte. Um sich ihren Seelenfrieden zu bewahren, ließ sie nicht zu, dass sich auch nur der kleinste Zweifel zwischen diese beiden Überzeugungen schob.
    Das ging schon seit langer Zeit so, vielleicht seit dem Tod der alten Duchesse d’Angoulême oder dem ihres Sohnes. Louise konnte es nicht genau sagen. Sie wusste nur, dass sie ohne den Astrologen nicht mehr leben konnte.
    Erinnerungen an ihre Kindheit kamen in ihr hoch. Hatte nicht die alte Anne de Beaujeu, bei der sie einige Jahre aufgewachsen war, inmitten all der Astrologen und Ärzte ihres Vaters gelebt? Ludwig XI. wäre wahrscheinlich der Letzte gewesen, der seiner jungen Nichte Louise de Savoie widersprochen hätte.
    »Mein lieber alter Freund!«, rief sie mit lauter Stimme, weil der alte Mann kaum noch hören konnte. Jeden Tag schien er sich mehr aus dieser Welt zurückzuziehen, und wenn er in klaren Nächten den Himmel beobachtete, stahl er sich davon, wie um nie wiederzukommen.
    »Mein lieber alter Freund«, wiederholte sie, »ich fürchte, ich brauche mal wieder Eure Hilfe.«
    Louise umarmte ihre Tochter, dann ging sie auf den alten Agrippa zu, nahm seine Hände und drückte sie herzlich.
    Der Astrologe antwortete nicht, aber an seinem Lächeln war unschwer zu erkennen, wie sehr er sich über den Besuch der Comtesse freute.
    Er hielt ihre Hände mit seinen knochigen Fingern fest und wackelte vorsichtig mit dem Kopf, wie auf der Suche nach einer lange verloren gegangenen Energie.
    »Mein lieber Freund! Mein guter alter Vertrauter!«, sagte Louise noch einmal in die Stille, die in der Bibliothek herrschte. »Ich weiß, Ihr seid müde, und ich sollte Euch eigentlich mit Euren Sternen und Planeten in Frieden lassen. Aber Ihr müsst sie bitte noch einmal für mich befragen.«
    Er sah sie mit seinen farblosen Augen unverwandt an.
    »Was wollt Ihr wissen, Louise?«
    Louise warf ihrer Tochter einen verlegenen Blick zu. Marguerite hatte eine farbig illuminierte Handschrift genommen, eines der kostbaren alten Dokumente aus der Bibliothek der Familie

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