Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
sprechen, der sie quälte? Sie überlegte, ging wieder ans Fenster, kehrte zurück und blieb vor dem alten Mann stehen.
Agrippa hatte seine blau geäderten Hände mit den knochigen Fingern und langen, ungepflegten Nägeln gefaltet.
»Seht Ihr einen Dauphin in der Wiege der Königin?«
»Ich sprach nicht von der neuen Schwangerschaft der Anne de Bretagne«, erklärte er ein wenig brüskiert.
Agrippa gehörte zu der Sorte Astrologen, die wollen, dass man versteht, was sie einem prophezeien. Doch wie hätte er den wachen Geist seines Schützlings bezweifeln können? Natürlich wusste er, dass das nur eine Finte von ihr war, um mehr zu erfahren.
»Ich sprach von einer ferneren Zukunft. Das habe ich Euch auch gesagt, Louise. Und ich habe Euch ebenfalls erklärt, dass Ihr euch mehr der greifbaren Gegenwart widmen müsst. Im Augenblick lässt Euch die Liebe alles andere vergessen. Das solltet Ihr ausnützen. Ihr werdet noch genug Zeit haben, Euch daran zu erinnern, wenn sie vergangen ist.«
Sie kam zu ihm zurück und setzte sich wieder auf den Hocker.
»Diese Mutterschaft ist sehr dunkel«, fuhr er leise fort. »Ich sehe weder Junge noch Mädchen.«
»Was dann?«, fragte Louise zögernd.
»Versteht es wie Ihr wollt. Mehr kann ich Euch nicht dazu sagen.«
Seine sonst so wohlklingende Stimme erstarb beinahe. Louise kam es wie ein Zögern vor, das sie sich nicht erklären konnte.
»Was dann?«, fragte sie noch einmal.
»Es tut mir leid für Anne, aber es ist wieder nur ein Nichts!«
Es klopfte an der Tür. Jeannette kam mit zwei Dienern herein, und im Handumdrehen entfachten sie ein großes Feuer, nachdem sie erst noch die kalte Asche aus dem Kamin gefegt hatten.
Lebhaft flackerten die Flammen und leckten an der kunstvoll verzierten Kaminrückwand, warfen ständig neue Schatten an die Decke und erwärmten Louise und den alten Mann bald.
»Wünscht Ihr vielleicht eine Erfrischung, Madame d’Angoulême?« , fragte Francette.
»Nein, danke, mein Kind. Ich brauche jetzt nichts«, antwortete Louise. Sie versank in Gedanken und gönnte dem alten Astrologen die wohlverdiente Erholung.
Erst sehr viel später erschien der Duc de Bourbon, um Louise abzuholen. Gemeinsam gingen sie hinunter in den großen Saal zu Alix und Alessandro, der schon bald wieder abreisen musste.
16.
Charles de Bourbon nahm zwischen Louise und Marguerite Platz, sodass Antoinette sich auf der anderen Seite neben das junge Mädchen setzen musste. Marguerite blieb schweigsam. Er sah sie an, musterte ausgiebig ihr Gesicht, ihr Kleid und ihre gesamte Erscheinung und wandte sich erst nach dieser eingehenden Prüfung, die Antoinette sehr missfiel, an ihre Mutter.
»Ich finde es äußerst bedauerlich, dass Eure Gäste nach Lyon abgereist sind, Louise. Dieser Florentiner Bankier hat mir sehr gefallen. Habt Ihr denn überhaupt Zeit gefunden, Eure Geldangelegenheiten mit ihm zu besprechen?«
»Das haben wir gleich am Tag nach Eurer Ankunft erledigt. Es ist alles bis ins letzte Detail geregelt. Ich danke dem Himmel, dass sich unsere Wege gekreuzt haben. Ich glaube, Alix weiß gar nicht, was für ein Glück sie mit ihm hat.«
»Täuscht Euch da mal nicht, meine Liebe. Ich bin überzeugt, sie weiß seinen wahren Wert sehr zu schätzen. Diese Frau ist alles andere als dumm. Sie weiß sehr genau, was sie tut.«
»Alix will zu den berühmtesten Webern aller Zeiten gehören, und ich finde, das steht ihr auch zu«, meinte Marguerite und hob dabei die Stimme.
»Hat sie tatsächlich so viele Werkstätten, wie dieser Bankier behauptet?«
»Oh ja, und die Tapisserien, die von ihren Webstühlen stammen, sind die schönsten, die man sich vorstellen kann. Habt Ihr
ihm nicht das Ensemble in dem Zimmer gezeigt, in dem Alix gewohnt hat, Mutter?«
»Nein, noch nicht, aber das werde ich gleich nachholen. Im Übrigen möchte ich die Teppiche in den großen Empfangssaal bringen lassen. Das ist der angemessene Platz für diese Kunstwerke.«
Charles de Bourbon nickte zustimmend, während er sich eine Suppe aus geschlagenem Ei und Gerste mit in Verjus getränkten Croutons schmecken ließ, die Jeannette den ganzen Tag auf dem Feuer gehabt hatte.
»Eure Speisen sind erlesen wie immer, Louise«, lobte er und schlürfte genüsslich die köstliche Suppe. »Oder sollte ich eher sagen, erlesen und üppig wie immer.«
Er ertappte sich dabei, dass er heimlich einen Blick auf den Diener warf, der auf ein Zeichen von Louise hin angelaufen kam und ihm seinen Teller erneut
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