Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
d’Angoulême.
»Soll ich Euch allein lassen, Mutter?«, fragte sie mit ruhiger Miene, während Louise ein wenig verstört schien. »Wir können uns später sehen.«
Dann zeigte sie auf das illuminierte Pergament und sagte: »Ich habe gefunden, wonach ich suchte, und will es gleich lesen. Ich komme später zu Euch, es sei denn, Ihr wollt Euch sofort mit Charles treffen.«
Sie lächelte ihrer Mutter zu und winkte dem alten Astrologen zum Abschied, drehte sich dann aber an der Tür noch einmal um.
»Möchtet Ihr vielleicht, dass ich Francette bitte, Feuer für Euch zu machen? Hier ist es ziemlich kalt, und Ihr sollt Euch keine Erkältung holen.«
Louise sah ihre Tochter liebevoll an. Sie hatte wirklich eine angenehme Art. Stets war sie freundlich und aufmerksam, sogar jetzt, wo sie die Liebesgeschichte zwischen ihrer Mutter und dem Duc de Bourbon doch sehr durcheinanderbrachte.
»Maître Agrippa und ich haben natürlich nichts gegen ein Feuerchen, mein Kind. Bitte Francette und einen Diener, dass sie uns die Bibliothek heizen.«
Marguerite zog die Tür leise hinter sich zu. Warum machte sich ihre Mutter nur solche Gedanken wegen Bourbon? Warum sollte sie nicht zu ihm gehen, sobald er wach war? Gewiss, Charles war verheiratet – aber hatte sie ihren Kindern nicht hundertmal versichert, dass sie nicht wieder heiraten wollte?
Mit einem Seufzer drückte sie das alte Manuskript an die Brust und dachte über ihr eigenes Glück nach, das sich offenbar von ihr abgewendet hatte, weil sie Nemours nie wiedersehen würde, der ihr noch immer den Schlaf raubte. Ihre Mutter ahnte nichts von ihren Qualen, weil sie viel zu sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt war.
Louise führte den Greis zu einem bequemen Lehnstuhl.
»Dies abscheuliche Wetter, das uns vom Rest der Welt abschneidet, scheint mir ein schlechtes Vorzeichen zu sein«, sagte sie und half dem alten Mann in den samtbezogenen Sessel.
Dann nahm sie einen Hocker und setzte sich zu Füßen des Astrologen, der sie abwartend ansah.
»Um den November brauchen wir uns nicht zu kümmern, Meister Agrippa, der Monat ist ohnehin bald vorüber. Wenden wir uns lieber dem Januar, dem Februar und dem kommenden Frühjahr zu.«
»Warum denn das, meine liebe Louise? Ihr solltet die Zeit nicht so schnell begraben. Sie hält noch einige Wohltaten für Euch bereit.«
»Seid Ihr da ganz sicher, Agrippa?«
Die Augen des alten Mannes begannen zu leuchten. »Ich kann Euch jetzt kein Horoskop mehr für den laufenden Monat stellen, aber ich verspreche Euch, dass Ihr noch viel Freude haben werdet – nicht zuletzt mit Eurem Geliebten.«
Louise unterdrückte einen zufriedenen Seufzer und starrte eine Weile in Gedanken versunken auf das geometrische Muster des Teppichs. Dann streckte sie ein Bein aus und schob das andere unter den hölzernen Schemel.
»Bitte stellt mir das Horoskop für Februar.«
»Warum denn gerade für den Februar?«
»Weil die Königin bis dahin niederkommen muss.«
»Ich kann es Euch für die zweite Dekade des Januars stellen. Dann erfahrt Ihr, was Ihr wissen wollt, Louise.«
Die Comtesse musste wieder seufzen. »Aber interpretiert es bitte nicht falsch, Louise. Eine Genugtuung kommt immer in Verbindung mit Gefahr oder anderen Widrigkeiten. Je größer die Freude ist, umso größer ist auch das Risiko. Ihr bekommt nicht alles, was Ihr euch wünscht. Eure Pläne werden erheblich gestört. Ihr müsst große Hindernisse überwinden, Projekte aufschieben und Euch von manchen Zukunftsträumen verabschieden. Hütet Euch, Louise, List und Berechnung bringen Euch nicht immer ans Ziel, nicht einmal was Eure Liebesangelegenheiten anbelangt. Eines Tages werdet Ihr aufgeben müssen, was Euch jetzt so umtreibt.«
Louise sah zum Fenster. Es hielt sie nicht mehr auf ihrem Platz. Sie stand auf, machte ein paar zögernde Schritte und starrte in den Kamin, in dem noch immer kein Feuer brannte.
Allmählich wich ihre Verwirrung, und sie lief mit großen Schritten auf und ab.
Der alte Astrologe kannte sie viel zu gut, als dass er nicht gewusst
hätte, dass sie jedes einzelne seiner Worte in sich nachwirken ließ. Er beobachtete ihre Aufregung und sagte mit einer Stimme, die so dunkel klang, als käme sie aus einem finsteren Labyrinth ans Licht: »Macht Euch nicht so viele Gedanken über eine ferne Zukunft. Lebt in der Gegenwart, Louise. Sie ist es durchaus wert.«
Hatte sie über diesen letzten Worten gegrübelt, oder wollte sie wirklich nur über den einen Gedanken
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