Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
antwortete Alix und sah zu, wie sich das Mädchen anschickte, wieder zu gehen. Tania lief nie einfach aus dem Zimmer, sondern wartete immer ein paar
Sekunden, falls Alix doch noch etwas einfallen sollte, was nun auch der Fall war. Ehe sie an der Tür war, fragte sie Alix:
»Weißt du, wo dein Bruder ist, Tania?«
»Nein, aber wahrscheinlich ist er im Stall.«
»Das würde mich sehr wundern, weil Leo gerade da zu tun hat und er ihm nicht gern begegnet. Sie richten es immer so ein, dass sie sich nicht über den Weg laufen.«
»Dann ist er wohl ausgegangen.«
Warum war dieser Théodore nur so hochmütig und aggressiv, während seine Schwester ganz bescheiden und freundlich war? Gegensätzlicher konnten zwei Geschwister im Wesen nach kaum sein. Tania war sich ihres Glücks bewusst und fügte sich vollkommen in das ruhige, großzügige Leben ihrer Herrin ein, aber die anmaßende, unversöhnliche Art ihres Bruders störte Alix sehr.
»Sag ihm, dass er zu mir kommen soll, sobald er zurück ist. Ich habe etwas mit ihm zu besprechen.«
»Ich richte es ihm aus, Dame Alix.«
Tania verschwand, und Alix hörte Angela die Treppe heraufkommen. Sie besuchte sie jeden Abend, um ihr gute Nacht zu sagen. Ach, ihre Angela war wirklich ein kleiner Schatz! Und noch so jung, gerade erst sechzehn Jahre alt. Alix hoffte, sie könnte sie mit Julio verheiraten, der es mit seiner zuverlässigen, geschickten Art zum Leiter ihres Kontors im Val de Loire gebracht hatte.
Angela kam herein und warf einen Blick auf Alix’ mächtig gewölbten Bauch.
»Wie geht es dem Kleinen?«, fragte sie und gab Alix einen Kuss.
»Du solltest lieber fragen, wie es der Mutter geht«, meinte Alix lachend. »Findest du nicht auch, dass ich ein bisschen zu dick bin? Ich glaube, ich platze, bevor ich niederkomme.«
»So dürft Ihr das nicht sehen, Alix«, protestierte Angela. »An Eurem dicken Bauch erkennt man, dass es ein gesundes, kräftiges
Kind wird. Wenn ich mir anschaue, wie viel Platz es jetzt schon für sich beansprucht, wird es bestimmt mit einem Triumphschrei auf die Welt kommen.«
»Meinst du wirklich?«
»Da bin ich mir ganz sicher. Außerdem würdet Ihr auch in diesem Zustand großartig aussehen, wenn da nicht dieser ängstliche Ausdruck in Euren Augen wäre.«
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie ich das noch einen Monat aushalten soll«, seufzte Alix.
»So lange wird es bestimmt nicht mehr dauern«, tröstete sie Angela und setzte sich zu ihr aufs Bett. »Es sind doch nur noch drei Wochen, und dann ist auch Alessandro wieder da.«
Traurig schüttelte Alix den Kopf.
»Nein, Angela. Alessandro wird nicht hier sein. Die Hoffnung habe ich aufgegeben. Er kommt erst nach der Geburt des Kindes wieder. Vielleicht sind wir dann nicht einmal mehr hier, weil ich nicht ewig abwarten kann, wie sich der Krieg entwickelt. Es ist von vielen Toten und Verletzten die Rede. Venedig gibt nicht auf, die Lage spitzt sich zu, und bald werden sie die Stadt belagern. Weiß Gott, wie lange das dauern wird.«
»Ihr müsst keine Angst haben, Alix, ich bin bei Euch, und Ihr wisst, dass ich Euch helfe, so gut ich kann. Das bin ich Euch schließlich schuldig.«
Sie lächelte ihre große Freundin liebevoll an und sagte mit einem Blick zum Fenster: »Seht nur, wie schön es heute ist! Es ist noch nicht ganz dunkel, und die späten Stockrosen verströmen ihren ganzen Duft. Wollt Ihr nicht vielleicht mit mir einen kleinen Spaziergang durch den Garten machen?«
Kaum hatten sie das Zimmer verlassen und die ersten Stufen auf der Marmortreppe genommen, die zur Empfangshalle in Alessandros
Haus führte, als sie die feierliche Stimme des Kammerherrn hörten.
»Die junge Dame de La Trémoille wünscht Euch zu sprechen, Madame!«
»Constance?«
»Ja, Madame, Constance de La Trémoille.«
Alix wäre ihr gern entgegengelaufen, so sehr freute sie sich über diese Nachricht, aber sie verzog nur das Gesicht und klammerte sich ans Geländer, um nicht zu stürzen.
Angela musste ihr helfen, und ganz langsam bewegte sie sich in Richtung Eingang, wo kurz darauf die wie immer strahlend schöne, verführerische und prächtig gekleidete Constance erschien. Sie war überglücklich über den Besuch ihrer Cousine und ganz begierig darauf, eine schöne Zeit mit ihr zu verbringen! Alessandros Abwesenheit hatte ihre ganzen Pläne durcheinandergeworfen. Aber zusammen mit Constance, die fast alle wichtigen Florentiner Kaufleute kannte, kehrte ihre Begeisterung zurück, und sie
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