Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
gefangen gehalten wurde?
Charles d’Amboise, der vermutlich als Einziger in der Runde die traurige Geschichte kannte, brach das peinliche Schweigen.
»Kennt Ihr eigentlich die Werkstätten neben Château Chaumont, Alix?«
»Nein, leider nicht.«
»Dann seht sie Euch doch einmal an, wenn Ihr wieder in Tours seid.«
»Das mache ich gerne. Haben sie denn einen guten Ruf?«
»Immerhin werden dort die schönsten Millefleurs gewebt, die man sich vorstellen kann. Es ist erstaunlich, dass Ihr noch nicht davon gehört habt.«
»Ehrlich gesagt bin ich etwas von den Millefleurs abgekommen und wende mich gerade anderen Ausdrucksformen zu.«
»Welchen denn, wenn ich fragen darf?«
»Ich beschäftige mich zurzeit mit dem Renaissancestil«, antwortete Alix und stellte fest, dass Raffael ihnen aufmerksam zuhörte.
»Und was genau wird in Chaumont gewebt, Monsieur d’Amboise?«
»In erster Linie Tapisserien mit herrschaftlichen Szenen. Wir renovieren unser Schloss und versetzen es nach und nach in seinen
ursprünglichen Zustand, allerdings im Geiste der italienischen Renaissance. Mein Vater Pierre d’Amboise lässt gerade die Gebäude wieder errichten, die unter König Ludwig XI. geschliffen wurden.«
»Sie wurden geschliffen! Warum denn das?«
»Nun, es war gefährlich, sich mit diesem harten König anzulegen. Mein Vater hatte Partei für die Liga für das Allgemeinwohl ergriffen und wurde dafür grausam bestraft. Der König ließ einen Großteil des Schlosses verwüsten, das nun wieder aufgebaut wird.«
Mit seinen beinahe vierzig Jahren war Charles d’Amboise kein Jüngling mehr. Von schöner Statur, mit dichtem grauem Haar, aber einem jungen, faltenlosen Gesicht, war der Duc d’Amboise eine stattliche Erscheinung, der die Frauen beeindruckte.
»Dann ist es also abgemacht – Ihr kommt mich einmal auf Chaumont besuchen und seht Euch meine Weberwerkstätten an. Ich verspreche Euch, Ihr werdet nicht enttäuscht.«
»Unsere Weberin, Dame Alix, hat uns einige kleine Tapisserien aus ihren Werkstätten gezeigt«, sagte Raffael. »Es sind sehr gelungene Arbeiten, wie ich finde. Wenn sie mich morgen in meinem Atelier besucht, will ich sie aber überzeugen, dass sie auch noch auf ganz andere Techniken und Motive zurückgreifen kann. Auch die Kunst der Teppichweberei entwickelt sich schließlich weiter.«
»Bis vor Kurzem habe ich nur höfische Szenen gewebt, Maestro Raffael. Ehe ich Tours verließ, habe ich aber an Madonnen und anderen Figuren aus der Bibel gearbeitet, für die mir die Maler Van Orley und Van Roome die Kartons gemalt haben. Zurzeit müsste ich eigentlich an einem Ensemble mit dem Titel Augustus und die Sibylle sitzen.«
Ohne Alessandro fühlte sich Alix einsam und allein. Plötzlich hatte man ihr allen ganzen Halt genommen, und sie fühlte sich nutzlos
und beinahe hoffnungslos. War sie unglücklich? Sie wusste gar nicht mehr, was sie denken sollte. Vielleicht auch nur verbittert bei dem Gedanken an eine Vergangenheit, die sie jedoch nicht vergessen wollte. Schließlich war Alessandro der Vater des Kindes, das sie in wenigen Wochen zur Welt bringen würde. Und es gab nichts, was den Lauf der Geschichte ändern konnte.
Der Vater ihres Kindes! Wie hätte sie nicht an ihn denken sollen, während sie auf dem Bett im Zimmer ihres Geliebten lag und vor sich hin träumte? Musste sie Florenz nach der Geburt verlassen, wenn sich Alessandros Rückkehr weiter verzögern würde?
Ihre Gedanken schweiften zu Mathias, ihrem treuen Freund, ihrem Gefährten in guten und in schlechten Zeiten, der sie schon immer liebte. Dann tauchte das rosige Gesicht des kleinen Nicolas vor ihr auf, und sie bekam plötzlich großes Heimweh nach dem Val de Loire. Sie träumte so oft von ihren Werkstätten, dass sie unbedingt eines Tages zurück nach Hause musste.
Warum war ihr Geliebter nur mitten im Krieg nach Venedig gegangen, wo jeder versuchte, Gewinn aus einem allzu einträglichen Geschäft zu ziehen? Dem Krieg, den König Ludwig XII., Papst Julius II., die Soldaten der Borgia und die Söldner, die Maximilian von Österreich bezahlte, führten und von dem nun auch noch die Florentiner ihren Anteil beanspruchten?
Schon seit langer Zeit hielten die europäischen Herrscher das mächtige Venedig für verdächtig und vor allem für gefährlich. Es bereicherte sich viel zu sehr durch seinen uneingeschränkten Handel mit dem Orient – mit den Türken, den Ägyptern und den Nordafrikanern, diesen Ungläubigen, die eine
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