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Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)

Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)

Titel: Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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italienischen Renaissance eingeführt hatte, wusste Alix, dass die Florentiner es über die Maßen liebten, wenn gemalte, gemeißelte oder gewebte Körper wie die von griechischen Göttern aussahen.
    »Wie die Hand die Blätter der Osterluzei hält, das ist typisch Florentiner Kunst«, sagte sie bewundernd.
    Wieder prägte sie sich das Bild ein. In einer Ecke entdeckte sie einige Madonnen mit feinen Gesichtern und roten Haaren, Porträts und Landschaften, die sich schon allein wegen ihres Seltenheitswerts auszeichneten.
    Alix geriet ins Träumen. Das schöne Florenz hatte sie so freundlich aufgenommen, dass sie es auf keinen Fall überstürzt und unüberlegt wieder verlassen konnte. Aber ihr geliebtes Val de Loire fehlte ihr, und die Erinnerung an ihre Werkstätten mit den großen Teppichen auf den Hochwebstühlen tat weh. Also kam sie zu dem Schluss, dass sie in Florenz nichts mehr verloren hatte und endlich zurück nach Frankreich musste, um sich um ihre eigenen Angelegenheiten, ihre Werkstätten und ihre Arbeit zu kümmern.
    In melancholischer Stimmung verließ sie den alten Mann und
machte sich auf die Suche nach Leo, der, wie verabredet, ganz in der Nähe des Wasserspeiers auf sie wartete.
    Morgen wollte sie Raffael besuchen.
     
    Die Kunst der Tapisserie befand sich in einer entscheidenden Entwicklungsphase, stellte Alix fest, als sie Raffaels Kartons für den Vatikan sah. Von dieser Entwicklung hatte sie bisher nur eine vage Ahnung.
    Warum hatte ihr Jean nichts von dieser Metamorphose in der Malerei und der völlig neuen Auffassung von Formen und Symbolen gesagt? Warum hatte er ihr nichts von dieser Verwandlung erzählt, die die gesamte Ordnung der abendländischen Welt auf den Kopf zu stellen schien? Befürwortete er diese Entwicklung nicht? Ihr Wunsch, Florenz zu verlassen und nach Hause zu fahren, wurde immer stärker. Sie hatte den Kopf voller Ideen. Neue Farben drängten an die Oberfläche und jetzt auch ganz neue Kompositionen  – auf einmal sah sie die Historienteppiche mit ganz anderen Augen. Die italienischen Maler waren ihren flämischen Kollegen meilenweit voraus. Nicht einmal Van Roome konnte da mithalten.
    Raffaels großes, helles Atelier lag mitten in Florenz. Durch die hohen Fenster, die das goldene Sonnenlicht hereinließen, drang auch der Lärm der Stadt.
    Vier Maler standen vor ihren Staffeleien und folgten den Anweisungen ihres Meisters. Alix sah, dass einem der Männer, die wohl Raffaels Schüler waren, die junge Frau Modell stand, in dessen Begleitung Raffael bei Alessandro erschienen war. Sie posierte beinahe nackt.
    »Ihr seid sehr schön«, sagte Alix und bewunderte ihren makellosen Körper.
    Man erkannte die Rundungen ihres träge ausgestreckten weißen Schenkels unter einem hauchzarten, durchsichtigen Schleier,
der ihren Oberkörper bedeckte, aber eine Brust und den hübschen Bauch des Mädchens freiließ.
    Das andere nackte Bein hatte sie sinnlich angewinkelt, den zierlichen Fuß hatte der Maler auf einen purpurroten Samtschemel postiert.
    »Ich verneige mich vor Eurer Schönheit.«
    Obwohl sie bei ihrem Besuch in Alessandros Haus sehr unfreundlich zu Alix gewesen war, ließ sich das Mädchen jetzt zu einem Lächeln herab und musterte Alix’ unförmigen Bauch abfällig.
    Alix ließ es dabei bewenden und ging zu einem großen Tisch, auf dem sich Farbtöpfe, Pinsel und Öle, verschiedene Essenzen, in Bronzeschalen zermörserte Farben und fleckenübersäte Lappen türmten. Daneben stapelten sich jungfräulich weiße Kartons und andere mit schwarzen Skizzen oder Zeichnungen, von denen ihr der Maler einige zeigte.
    »Ich glaube, ich werde mir bei Euren Zeichnungen Anregungen für meine Teppiche mit dem Titel Augustus und die Sibylle holen. Erlaubt Ihr, dass ich mir ein paar Skizzen mache?«
    »Nicht nur das, Alix.«
    Sie errötete ein wenig, als er sie – was ganz unüblich war – einfach mit ihrem Vornamen ansprach. Dabei hatte Alix nicht das Gefühl, er verfolgte damit gewisse Absichten. Ganz kurz musste sie an den Maler Dürer denken, der sie früher einmal so gemein ausgenützt hatte, als sie verzweifelt und allein und hilflos einer Welt ausgeliefert war, die sie erst noch kennenlernen musste.
    Dann fiel ihr auch noch ihr Freund, der flämische Maler Van Orley, ein, der vor langer Zeit nach Rom gegangen war und dort von Jean de Villiers protegiert wurde.
    Raffael kramte in dem Durcheinander, suchte ein paar kleine Kartons mit Zeichnungen heraus und reichte sie Alix.
    »Bitte,

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