Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
Kutsche vor der Terrasse hielt, deren Stufen bis zum Flussufer hinunterführten, erschien Alix zu ihrer Begrüßung. Louise war in Begleitung einer Dame und eines Herrn. Ehe Alix Gelegenheit fand anzukündigen, dass man sich nach dem Souper in Alessandros Stadthaus nach Tours begeben würde, machte sie Louise miteinander bekannt.
»Darf ich vorstellen, Alix«, sagte Louise mit einem Blick auf ihre Begleiter, »Sire de Beaune und seine Nichte Catherine Briçonnet, Gattin von Thomas Bohier, dem Oberbefehlshaber der königlichen Armeen.«
Der Mann war schon älter und ziemlich korpulent, hatte scharf geschnittene Gesichtszüge, einen weißen, bartlosen Teint, listige Augen und nur noch wenige Haare und trug ein kostbares Gewand, das mit Hermelin gefüttert und mit Edelsteinen besetzt war, die im Widerschein des knisternden Feuers funkelten.
Die Frau, die ihn begleitete, gefiel Alix auf Anhieb. Sie musste etwa im Alter von Louise sein, also Anfang dreißig. Abgesehen von einem leichten Bauchansatz und ihrem blassen Gesicht mit dem hervorstehenden Kinn hatte sie keine Ähnlichkeit mit ihrem Onkel. Ihre hohe, glatte Stirn, die grauen Augen und ihr Haar,
streng unter einer Haube aus Genueser Samt versteckt, der kurze Hals – alles in allem wirkte sie sehr herrisch; ihr Gesicht war nicht gerade anmutig, hatte aber mit seiner offenen, ungekünstelten Art seinen eigenen Charme.
Catherine Briçonnets Bewegungen waren mehr als gemächlich, aber ihr Blick scharf, ihre Gesten langsam, aber präzise und ihr Verhalten nonchalant, doch gleichzeitig äußerst überlegt.
Sie lächelte zuvorkommend, blieb dabei aber immer misstrauisch. Ihr Gegenüber sah sie an, ohne die Lider zu senken, sie sondierte und überlegte und wusste nach wenigen Sekunden, was sie von ihm zu halten hatte. Nur wenn sie die Person nicht interessierte, ließ sie den Blick von ihr.
Ihre kleinen weißen Hände mit den dicken Fingern, die kein Ring störte, berührten nur, was ihr gefiel. Und das waren nicht etwa nur goldene Schälchen oder silberne Teller, schillernde Stickereien, Kästchen aus Jade oder edlem Holz, Gemälde von großen Meistern oder andere Kostbarkeiten. Nein, genauso liebte sie Erde, Gras oder Heu, eine Knospe, die aus einem Zweig sprießte oder das Blatt am Baum. Sie genoss es, alles mit ihren empfindsamen Fingern zu liebkosen.
So in etwa muss man sich Catherine Briçonnet vorstellen, die Gattin von Thomas Bohier, dessen Vater der Freund, Ratgeber und Financier des verstorbenen Karls VII. gewesen war.
»Mein Onkel und ich danken Euch, Dame Alix Cassex, dass Ihr uns mit Sire Alessandro Van de Veere bekannt machen wollt. Schon lange hegen wir den Wunsch, mit einem Florentiner Bankier in Verbindung zu treten. Dank Eurer Hilfe dürfte es nun bald so weit sein.«
Sie musterte Alix mit ihren dunkelgrauen Augen und fuhr mit einem Lächeln fort:
»Ich glaube kaum, dass wir uns entschließen können, ganz nach
Florenz zu ziehen. Aber vielleicht kommen wir eines Tages zu Besuch. Die Stadt soll wunderschön sein.«
Maître Barnabé bereitete ihnen in seinem schönsten Speisesaal einen königlichen Empfang und servierte ihnen ein üppiges Mahl – mit Haselhuhnpastete gefüllte Wachteln, Andouillettes mit Johannisbeeren auf würzigem Quarkbett und Hähnchen in Aspik mit geliertem Lammconfit.
Jacques de Beaune sagte wenig; offenbar störte ihn die Anwesenheit von Alix, die er nicht kannte. Dafür redete Catherine für zwei, so sehr schien ihr die neue Bekannte zu gefallen.
Das Souper verlief in allerbester Stimmung, und Meister Barnabé verbeugte und bedankte sich unter den größten Verrenkungen, als seine Gäste mit dem Versprechen aufbrachen, bald wiederzukommen.
»Alix«, sagte Louise mit Blick auf ihren Kutscher Bonaventure, der sich am Wagen zu schaffen machte, »sollen wir Euch in meiner Kutsche mitnehmen? Sie hat vier bequeme Plätze.«
Alix deutete auf die mächtige Ulme, an die sie Jason gebunden hatte.
»Danke, aber ich reite lieber auf meinem Pferd, das mich da hinten erwartet. Leider habe ich viel zu wenig Zeit für Jason, und er scharrt schon ungeduldig mit den Hufen, weil er hofft, dass wir jetzt zurück in die Stadt traben. Ich zeige Euch den Weg, Ihr müsst nur hinter mir herfahren.«
Natürlich hätte man Jason auch einfach an die Kutsche binden können. Aber Alix wollte diesen »Geldleuten« zeigen, dass sie genauso gut mit den Zügeln ihres Pferds wie mit den Golddukaten umzugehen verstand, von denen gleich bei
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