Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
Schussfäden versehen.
»Ich finde, du arbeitest schnell und gut, Philippe. Was meinst du, Arnaude?«
»Ich bin ganz deiner Meinung, Alix. Ich glaube, du kannst ihn ruhig eine Woche nehmen. Danach sehen wir weiter.«
Alix lachte, als sie sah, wie gut sich die beiden verstanden, und sagte dann zu dem jungen Weber:
»Arnaude ist deine Fürsprecherin, und ich werde auf sie hören. Du wirst mit ihr arbeiten und schnell merken, wie freundlich und geschickt sie ist. Arnaude und ich sind seit vielen Jahren Freundinnen, und sie arbeitet für mich, seit ich die Werkstätten mit meinem Mann Jacquou aufgemacht habe, der leider gestorben ist. Sie kann dir alles über die Arbeit hier sagen.«
Sie wollte schon gehen, drehte sich aber noch einmal um:
»Ach, beinahe hätte ich’s vergessen – Arnaudes Mann Arnold arbeitet in der Werkstatt nebenan, die genauso groß ist wie diese hier. Nachdem du erst einmal bei uns bleibst, können wir sie dir morgen zeigen. Wundere dich nicht, wenn sich heute noch ein anderer Arbeiter bei uns vorstellt. Solltet ihr gleich gut sein, denke ich daran, dass du als Erster hier gewesen bist. Falls wir uns für den anderen entscheiden sollten, kannst du trotzdem die eine Woche bei uns arbeiten.«
»Findest du das gerecht?«, protestierte Mathias. »Der andere Bewerber ist nur noch nicht gekommen, weil ihn sein Meister nicht gehen lassen will.«
»Da hast du recht, Mathias. Aber was sollen wir dann machen,
wenn sein Zeugnis und seine Arbeit genauso gut sind wie die von Philippe?«
»Ich hab Maître Fortier gesehen«, mischte sich plötzlich Pierrot ein, »er sah so aus, als wollte er sich gar nicht gern von seinem Arbeiter trennen.«
»Das spricht eher für den jungen Mann. Der Meister muss sehr zufrieden mit ihm sein. Warum will er denn dort weg?«
»Das werden wir dann schon sehen«, meinte Mathias, um die Diskussion zu beenden.
Den ganzen Nachmittag kümmerte sich Arnaude um ihren neuen Schützling. In ein paar Jahren werde ich das alles meinem kleinen Guillemin beibringen, dachte sie, und er ist bestimmt ein guter Schüler. Ich will versuchen, ihn so weit zu bringen, dass er ein Meisterstück bei der Gilde abliefert. Arnold hat das nie gewagt, aber mein Sohn soll den Meister machen.
»Du musst unbedingt darauf achten, dass die Rapporte auf dem Karton und auf deiner Arbeit übereinstimmen, Philippe«, erklärte sie ihrem jungen Arbeitskollegen.
Erst als es dämmerte, kündigte sich der andere Arbeiter mit lautem Türklopfen an.
»Herein«, sagte Alix und ging dem jungen Mann entgegen, der auch höchstens achtzehn war. Er hatte schwarze, widerspenstige Haare, einen lebhaften, für Alix’ Geschmack etwas sehr übermütigen Blick und strotzte nur so vor Tatendrang, den er auch gleich unter Beweis stellte.
»Ich heiße Grégoire«, platzte er heraus, ohne dass ihn jemand nach seinem Namen gefragt hätte.
»Also gut, Grégoire, dann erzähl uns doch erst mal, warum du Maître Fortier verlassen willst, obwohl der dich offenbar lieber behalten würde.«
»Ach, Dame Cassex, mir scheint, Ihr seid nicht auf dem Laufenden.«
»Was soll das heißen?«
»Maître Fortier muss seine Werkstatt schließen.«
Nun war auch Mathias dazugekommen.
»Wieso sollte er seine Werkstatt schließen müssen?«, fragte er und musterte den jungen Mann prüfend.
»Weil er keine Arbeit mehr hat.«
»Kann er sich denn nicht wie alle anderen Meister auch auswärts Aufträge holen?«
»Die Mortagne lassen ihn nicht.«
»Sie lassen ihn nicht! Warum denn das?«
»Weil er seinen letzten Teppich signiert hat.«
Sollte diese alte Geschichte nie ein Ende finden, dachte Alix verärgert. Die Gebrüder Mortagne schienen noch immer zu meinen, sie hätten als Einzige das Recht, ihre Webereien mit dem »T« für Tours zu signieren.
»Das ist doch erlaubt. Das habe ich persönlich durchgesetzt. König Ludwig XII. hat mir seine Zustimmung gegeben. Jetzt dürfen alle Weber von Tours ihre Arbeiten mit dem ›T‹ signieren. Warum sollte ausgerechnet Maître Fortier kein Recht dazu haben? Das ist doch unglaublich! Da steckt noch jemand anders dahinter. Anscheinend sind die Mortagne nicht die Einzigen, die hier das Sagen haben wollen!«
»Ich kann den Namen schon gar nicht mehr hören«, grummelte Mathias. »Bestimmt machen sie uns bald wieder Ärger.«
»Viel schlimmer!«, rief der junge Mann. »Maître Fortier hat mir erzählt, dass sie Euch vernichten wollen.«
Alix wurde bleich, und Mathias stürzte auf Grégoire
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