Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
zu und packte ihn am Arm.
»Weißt du noch mehr?«
»Sie haben das Feuer in Euren Werkstätten gelegt.«
»Das haben wir uns schon gedacht! Aber damals hatten wir keine Möglichkeit, es ihnen zu beweisen. Erzähl schon, was weißt du noch?«
»Sie suchen nach Mitteln und Wegen, wie sie Euch schaden können.«
»Wie soll das gehen?«
»Über den Mittelsmann in Eurem Kontor, der mit den Flandern zusammenarbeitet.«
»Das wird ihnen nicht gelingen!«, rief Alix empört. »Ich bekomme Unterstützung von der Gilde in Brügge, die mir ein ständiges Depot genehmigt hat.«
Dieses Detail war dem schlauen Grégoire offensichtlich nicht bekannt! Die Verwaltung der Handelskontore in Brügge würde eine derartige Ungeheuerlichkeit bestimmt nicht zulassen. Damit würden sie die Mitgliedschaft des mächtigen Van de Veere aufs Spiel setzen, über den so gut wie die Hälfte ihrer Geschäfte mit Italien liefen. In dem Punkt war sich Alix ganz sicher – Alessandros Unterstützung war unumgänglich und unangreifbar.
Alix sah sich nach Philippe um. Der warf dem Neuankömmling finstere Blicke zu. Verständlicherweise quälte ihn die Angst, der andere könnte ihm seinen Platz streitig machen. Jetzt blickte er von seiner Arbeit auf und sagte ruhig, aber mit sorgenvoller Stimme:
»Ich habe alle Schussfäden gespannt. Wenn Ihr wollt, komme ich morgen wieder und webe die Motive.«
»Er hat seine Arbeit sehr gut gemacht, Alix«, sagte Arnaude voller Anerkennung.
»Dann kannst du morgen wiederkommen.«
Mathias war sehr erschrocken über die Enthüllungen des jungen Webers und befürchtete, die Mortagne würden alles unternehmen, um ihre Machtposition zu stärken.
»Es ist schon spät, wir schließen jetzt«, sagte er plötzlich. An den jungen Mann gewandt fügte er hinzu:
»Du bleibst noch und zeigst uns, was du kannst. Wo wohnst du denn?«
»Ich schlafe bei Mère Poularde.«
»Hast du keine Verwandten in Tours?«
»Ich habe überhaupt niemanden.«
Seit Mère Poularde Witwe war, führte sie ihr Gasthaus allein. Weil sie ihr Leben lang Hühner gezüchtet hatte, nannten sie alle einfach »Mère Poularde«. Irgendwann hatte sie aber von einem verstorbenen Onkel geerbt und beschlossen, ein eigenes Gasthaus aufzumachen und sich ganz auf Geflügelgerichte zu spezialisieren.
»Setz dich«, sagte Mathias und deutete auf den Hochwebstuhl. »Die anderen sind alle gegangen, jetzt hast du Ruhe.«
Zum ersten Mal wirkte Grégoire ein wenig verlegen.
»Was hast du denn?«
»Also … Ich habe noch nie an einem Hochwebstuhl gearbeitet. Maître Fortier ist ein kleiner Mann, er hat nur Flachwebstühle.«
»Würdest du denn gern an einem Hochwebstuhl arbeiten?«
»Ja, natürlich«, antwortete er, und seine Augen strahlten.
»Wir werden sehen. Inzwischen zeigst du uns eben an einem anderen Webstuhl, was du kannst.«
»Vielleicht an dem hier?«, fragte Grégoire und deutete auf den Webstuhl von Alix.
»Nein, da habe ich gerade einen neuen Teppich angefangen«, antwortete Alix. »Siehst du nicht den Karton hinter dem Rahmen?«
Als Mathias zustimmend nickte, überlegte sie es sich anders und sagte:
»Also gut, warum eigentlich nicht? Setz dich und sieh es dir an. Der Teppich heißt Augustus und die Sibylle .«
»Wie groß die Figuren sind!«
»Die Zeichnungen habe ich aus Florenz mitgebracht. Sie sind im Stil der Renaissance gehalten, von der du in diesen Werkstätten noch mehr kennenlernen wirst, wenn du bei uns bleiben solltest.«
»Es muss sehr schwierig sein, solche großen Gestalten zu weben.«
Mathias hatte sich allmählich wieder beruhigt, aber sie sah ihm seine Sorge noch immer an. Sollten die Mortagne ihnen wieder Schaden zufügen wollen, würde er sie öffentlich anklagen. Die Zeiten waren vorbei, als in den Werkstätten Cassex Angst und Hilflosigkeit herrschten.
Alix räusperte sich unschlüssig, aber Mathias’ Blick ermunterte sie zu fragen.
»Warum sucht dein Meister nicht außerhalb von Tours Arbeit?«, fragte sie Grégoire.
»Er ist schon zu alt und zu mutlos, um sich auf die Suche nach Aufträgen zu machen. In letzter Zeit konnte er mir nicht mal mehr meinen Lohn bezahlen.«
Pierrot war in der Werkstatt geblieben und hörte zu. Er ging oft genauso spät wie seine Herren nach Hause und kam morgens mit ihnen wieder. Abends aßen sie gemeinsam, und Pierrot ging nur aus, wenn er am nächsten Tag freihatte.
»Sehr gut!«, meinte Mathias, nachdem er Grégoire fast eine Stunde zugesehen hatte. »Du weißt, wie man
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