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Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)

Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)

Titel: Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jocelyne Godard
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mich nicht entscheiden. Ich werde Pierrot zu ihnen schicken und ihnen ausrichten lassen, sie sollen sich vorstellen. Dann kannst du die Wahl treffen.«
    »Warum hast du damit auf mich gewartet, Mathias? Du bist der Meister.«
    »Aber erst an zweiter Stelle.«
    »Da täuschst du dich. Ich will, dass wir beide gemeinsam die Werkstätten leiten, gleichberechtigt.«
     
    Wenig später lief die Arbeit in der Werkstatt auf Hochtouren, und zwar von frühmorgens bis spät in die Nacht. So war das damals überall. Aber da ein Arbeitstag lang war, hatte jeder einen Tag in der Woche frei, wie es die Kirche verlangte, damit er sich ausruhen oder amüsieren konnte.
    Julio und Angelo webten an den Teppichen für das Kontor in Brügge, in den beiden anderen Werkstätten wurde an der Fertigstellung der letzten laufenden Aufträge gearbeitet. Landry webte mit Mathias und Arnold die Teppiche für den König, Arnaude und Pierrot die für die Comtesse d’Angoulême, und Alix, die nun die raffinierte Technik des Flachstichs perfekt beherrschte, bei der mit Licht und Schatten gespielt wurde, konnte endlich Augustus und die Sibylle in Angriff nehmen.
    Sie betrachtete den Karton hinter ihrem Webrahmen und korrigierte in Gedanken den Gesichtsausdruck der Sibylle. Sie sollte sanfter und heiterer aussehen, aber auch nicht unterwürfig oder allzu verschämt wirken. Ihre Sibylle war nicht schicksalsergeben, auch wenn ihr eine Begegnung mit der Jungfrau Maria bevorstand. Alix durfte sich nur nicht dazu verleiten lassen, sie wie ihre Einhörner zu gestalten. Sie hatte schon so lange Einhörner gewebt und sie immer wieder sanft und friedlich blicken lassen wie glückliche Frauen, manchmal auch kämpferisch und mutig. Nein, ihre Sibyllen sollten ganz anders aussehen, und es lag an ihr herauszufinden, wie.
    Augustus und die Sibylle sollte ganz anders als alles Bisherige werden. Alix war fest entschlossen, diese Überraschung zu wagen. Als sie sich umdrehte, ertappte sie Mathias dabei, wie er sie beobachtete. Verlegen wandte er den Blick von ihr, stand von seinem Arbeitsplatz auf und ging zu Pierrot.
    »Weißt du, wo wir die beiden Arbeiter finden, die sich hier vorgestellt haben, als Alix nicht da war?«
    »Natürlich. Wenn der eine nicht wieder zurück nach Paris ist, müsste er noch in Tours sein. Der andere ist noch immer bei Maître Fortier und wartet darauf, dass du ihm sagst, er soll herkommen.«
    »Bei Maître Fortier?«, fragte Alix erstaunt nach. »Will er denn seine Werkstatt wirklich schließen?«
    »Wahrscheinlich schon.«
    »Und warum?«
    »Das weiß ich nicht. Vielleicht glaubt er, er ist zu alt.«
    »Geh schon, Pierrot, beeil dich!«, sagte Mathias. »Ich möchte die Sache so schnell wie möglich entscheiden und wäre sehr froh, wenn sich diese beiden jungen Männer im Laufe des Tages noch einmal vorstellen könnten. Wir müssen nämlich alle laufenden Aufträge erledigen, ehe wir mit den neuen beginnen können.«
    »Bin schon unterwegs! Ihr könnt drauf wetten, dass Pierrot mindestens mit einem von den beiden zurückkommt.«
    Pierrot sollte recht behalten. Am späten Vormittag erschien er mit einem großen, schlaksigen, aber schmuck gekleideten jungen Mann mit braunen Augen und gerade geschnittenen Haaren, die ihm knapp bis zu den Schultern reichten. Das war der Haarschnitt Ludwigs XII. und damals sehr in Mode. Alle jungen Höflinge und inzwischen auch die jungen Männer in den großen Städten trugen ihr Haar so. Schon Karl VIII. hatte diese Frisur eingeführt, allerdings reichten bei ihm die Haare nur bis zu den Ohren. Leider war er zu früh gestorben, als dass sein Haarschnitt Mode werden konnte.
    Auf den Wandteppichen aus seiner Zeit, die Alix immer als Vorlagen verwendet hatte, trugen die jungen Männer ihr Haar so wie er. Dieser junge Arbeiter schien direkt aus einer der herrschaftlichen Szenen herausgetreten zu sein, die sie mit Seidenfaden auf ihren Webstühlen webte.
    Alix stellte fest, dass seine Leinenweste sehr gut geschnitten
und seine Hosen tadellos sauber waren; unter dem beigefarbenen Überkleid konnte sie einen Ledergürtel mit einem Messer und einer kleinen Börse sehen, die bestimmt nicht sehr schwer war.
    Er grüßte Mathias, den er schon kennengelernt hatte, sah sich in der Werkstatt um und entdeckte Arnaude, die ihm aufmunternd zulächelte. Bei seinem ersten Besuch in der Werkstatt hatten sie ein paar Worte gewechselt, was ihr scheinbar genügte, um ihn sympathisch zu finden.
    Dann ging er auf Alix zu; ihrem

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