Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
kannst dir gar nicht vorstellen, auf was für böse Gedanken manche Menschen kommen«, meinte sie sorgenvoll. »Frag nur mal Angela! Sie kann es dir bestätigen.«
»Das stimmt, Julio, Alix hat tausendmal recht. Ich habe erfahren, wie gemein, niederträchtig, schäbig und habgierig viele Menschen sind.«
»Aber es gibt doch auch andere …«
»Die einem nur Böses wollen, voller Neid sind und auch nicht vor Mord zurückschrecken«, unterbrach ihn Mathias. »Die Gebrüder Mortagne sind wahre Ungeheuer. Glaub mir, Julio, wenn sie es auf dein Kontor abgesehen haben, in das du Tag für Tag all dein Wissen und dein Herzblut gesteckt hast, bist du verloren.«
»Dann müssen wir uns eben an den neuen Bischof von Tours wenden. Domherr André hilft uns bestimmt! Ich geh’bis zum Vatikan, wenn’s sein muss; schließlich gibt es auch noch Monsignore Jean.«
»Ich begleite dich«, beschloss Angela, die keine fünf Minuten ohne ihn aushalten konnte.
»Das wirst du nicht, weil du dafür viel zu jung bist«, widersprach Alix, womit sie endlich ihr Schweigen beendete. »Das schickt sich nicht.«
Da lachte Pierrot laut los, und alle stimmten mit ein, was ihrer Stimmung sehr guttat, besonders als sie Nicolas’ zartes Stimmchen hörten.
»Warum lachst du, Lilis?«
Der kleine Junge lief zu Alix und kletterte auf ihren Schoß. »Was machst du denn hier, mein Herz? Du solltest längst schlafen.«
»Ich weiß nicht, was heute mit ihm los ist«, sagte Bertille, während sie Julio noch ein Stück Fasan servierte, »er will einfach nicht auf mich hören.«
Alix drückte das Kind an sich, gab ihm einen liebevollen Kuss und reichte es Mathias.
»Bring ihn ins Bett, Mathias. Bestimmt braucht er dich, damit er einschlafen kann.«
»Nein, du sollst mich ins Bett bringen!«, rief der Kleine. »Ich will eine Geschichte.«
»Eine Geschichte?«
»Ja, die von dem großen Hund, der hinter dem Hasen herläuft.«
»Und ihn nicht erwischt«, sagte Pierrot. »Die Geschichte hab’ ich dir doch schon hundertmal erzählt, Nicolas.«
»Lilis kann sie viel besser erzählen.«
»Also gut, komm mit, Nicolas«, meinte Alix. »Ich erzähl dir die Geschichte.«
Mit dem Kind auf dem Arm ging sie aus dem Esszimmer. Mathias kam ein paar Minuten später nach, aber da schlief Nicolas bereits.
»Wie hast du das geschafft, Alix?«
»Komm schon, Mathias, wenn du dir ein bisschen Mühe gibst, kommst du auch sehr gut mit deinem Sohn zurecht.«
»Ich habe aber viel zu wenig Zeit für ihn.«
»Nicolas geht es nicht schlecht.«
»Ich weiß, aber er verdankt es dir, dass es ihm an nichts fehlt. Deiner Liebe und Bertilles großer Fürsorge.«
»Es stimmt, ich liebe Nicolas. Oft habe ich das Gefühl, er ist mein Sohn. Erzählst du ihm manchmal von Florine?«
»Nur ganz selten.«
»Das solltest du aber tun. Man kann nie wissen, ob ich seine ganze Kindheit für ihn da sein kann.«
»Ich weiß es aber.«
»Jungen sind manchmal ziemlich schwierig, wenn sie größer werden.«
»Nicolas wird nie ein schwieriges Kind sein. Er ist wie ich. Als Kind war ich genauso brav und friedlich, sanft wie ein Lamm.«
»Du hast dich verändert.«
»Was soll das heißen?«
Alix ließ es zu, dass Mathias ihre Hand nahm und sah ihrem Gefährten in die Augen. In seinem Blick loderte ein Feuer, das sie lieber gar nicht sehen wollte. Sobald sie ihm besondere Aufmerksamkeit schenkte, flammte seine Hoffnung auf. Aber Alix war nicht bereit, diese Hoffnung irgendwie zu nähren. Das führte nur zu noch größeren Probleme zwischen ihnen, wenn sie Tours verließ, um Alessandro zu treffen. Behutsam entwand sie ihm ihre Hand.
»Gute Nacht, Mathias, bis morgen. Wir haben einen langen und anstrengenden Tag vor uns.«
11.
Unter dem weithin hörbaren Klang der Fanfaren machte sich Louis XII. mit seiner Armee bereit, nach Mailand loszuziehen.
Aus allen Fenstern wehten Standarten und Fahnen, um den beginnenden Kriegszug gebührend zu feiern.
Die Vorbereitungen gipfelten in einem allgemeinen Durcheinander, das noch verstärkt wurde durch den Lärm der Menschenmengen, die sich am Loireufer drängelten.
Mit lauten Rufen stürzten sich die Gaukler auf Passanten, Händler und Gaffer, die sofort stehen blieben, weil sie auf Unterhaltung aus und um keine freche Antwort verlegen waren.
Wie immer, wenn ein wichtiger Feldzug bevorstand, veranstalteten die Schausteller ein großes Spektakel für das Publikum. Die fahrenden Künstler bemühten sich bereits seit dem Vorabend darum, die Leute
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