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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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Mehrmals hielt ich inne und lauschte, hörte jedoch nur das Flüstern der Blätter und in unbestimmbarer Ferne ein Rascheln, das ebenso gut von bewegten Ästen im Wind wie von menschlichen Schritten herrühren mochte. Am liebsten hätte ich nach den anderen gerufen, fürchtete jedoch, die Aufmerksamkeit des Unbekannten auf mich zu ziehen, der in diesem Wald umging und auf unbeirrbare Weise unseren Tod suchte.
    Ein Schrei ließ mich erstarren – diesmal jedoch war es nicht jene Geisterstimme, die unsere neuerliche Heimsuchung angekündigt hatte, sondern eindeutig ein lebender Mann. Ich glaubte, die Richtung zu erfassen, wandte mich nach links und schlich vorwärts.
    „Godefried?“, erklang es von weit her. „Godefried!“
    Unweit vor mir tauchte ein heller Fleck auf, wo die Bäume weniger dicht standen, und ich strebte geradewegs darauf zu. Als ich die Lichtung betreten wollte, stieß mein Fuß gegen etwas, das am Boden lag. Ich beugte mich hinab, tastete – und fuhr zurück, als ich groben Stoff und die noch warme Haut eines Oberarms spürte. Es war Godefried; ich erkannte ihn an seinem dichten Lockenhaar und dem breiten Ledergürtel. Er lag unnatürlich verdreht am Boden, eine Hand um den Pfeilschaft gekrallt, der in seiner Schulter steckte. Ein zweiter Pfeil ragte aus seinem Rücken hervor. Ich ließ mich an seiner Seite nieder und stellte fest, dass zwischen den halb geöffneten Lippen kein Atem mehr ging.
    „Godefried?“
    Volkrad stürzte von der gegenüberliegenden Seite auf die Lichtung. Er erblickte mich, der ich neben der Leiche seines Vetters kniete, dann den Toten selbst.
    „Du!“, flüsterte er drohend und hob seinen Dolch.
    „Ich habe nichts getan!“, wehrte ich erschrocken ab. „Ich bin euch nur gefolgt und über ihn gestolpert!“
    Glücklicherweise näherten sich eben weitere Schritte, und die hohe Gestalt meines Herrn erschien im Mondlicht zwischen den Bäumen. „Odo?“
    „Ja, Herr!“, beeilte ich mich zu bestätigen.
    „Hierher!“, rief Hartmann über die Schulter, und kurze Zeit später folgten ihm Huno und Herbort. Alle nahmen den Leichnam Godefrieds in Augenschein, während Volkrad sich mit finsterer Miene abseits hielt.
    „Seht nur!“, murmelte Hartmann, der niedergekniet war und den Toten auf die Seite drehte. „Wie seltsam.“
    Ich begriff nicht sofort, was er meinte. Dann jedoch sah ich, dass einer der Pfeile – derjenige in der Schulter – genau an jener Stelle steckte, wo das weiße Kreuz auf den dunklen Kittel des Toten aufgenäht war. Offenbar hatte das heilige Zeichen, gemäß einer satanischen Laune böser Mächte, dem Schützen als Zielkreuz gedient. Der Pfeil ragte senkrecht neben dem Kopf des Toten auf, als sei er von oben hineingetrieben worden.
    Hartmann blickte mich an, dann Herbort – und schließlich wanderte sein Blick langsam zu dem Baum empor, unter welchem Godefried zusammengebrochen war. Es war eine mächtige, weitverzweigte Eiche, deren Wipfel höher ragte als jeder Baum in weitem Umkreis.
    „Der Schütze ist dort oben!“, rief er und sprang auf. „In der Baumkrone! Kein Wunder, dass wir ihn nicht gefunden haben!“
    „Zumindest war er dort“, sagte Herbort. „Ich sah einen Schatten durchs Unterholz nach Westen fliehen. Wahrscheinlich hat er Godefried niedergeschossen, ist dann herabgeklettert und fortgerannt.“
    Er nahm seinen Dolch zwischen die Zähne, packte einen der unteren Äste und kletterte mit der Behendigkeit eines Wiesels in die Baumkrone hinauf. Wir Übrigen standen unten und warteten, während wir Äste knarren und das Laub rascheln hörten. Dann sprang Herbort herab, landete katzengleich am Boden, richtete sich auf und steckte den Dolch in den Gürtel.
    „Ich ahnte es“, sagte er. „Dort oben ist eine Astgabel, von der aus man das Lagerfeuer sehen kann. Ohne Zweifel war dies das Versteck des Angreifers.“
    Im selben Moment fiel mein Blick auf eine Stelle nahe dem Rand der Lichtung, wo das Mondlicht nackte Erde erhellte. Der Boden war noch feucht von dem kürzlichen Regenguss, und ich erkannte deutlich Abdrücke nackter Füße, die sich im Gestrüpp verloren.
    „Hier sind Fußspuren!“, rief ich, woraufhin alle herbeieilten. Hartmann kniete sich neben mich.
    „Das sind nicht die Füße eines Mannes“, stellte er mit gerunzelter Stirn fest. „So klein ...“
    „Die Wenden glauben, dass in diesen Wäldern Waldjungfrauen umgehen“, sagte Huno beklommen. „Ich habe wendische Händler davon erzählen hören. Sie sagen, dass

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