Die Tränen der Vila
es Geister sind, die Wanderer in die Irre führen und sich an jedem rächen, der sie aufstört.“
„Ein Geist hinterlässt keine Fußspuren“, beschied Hartmann sachlich.
„Es könnten auch die Füße eines Jünglings sein“, meinte Herbort, der sich mit kundigem Blick über die Spuren beugte. „Für einen ausgewachsenen Mann sind sie in der Tat zu schmal.“
In mir jedoch keimte plötzlich ein Verdacht, der mir noch verstörender erschien als Hunos Geistergeschichte. Ein Gesicht erschien vor meinem geistigen Auge, ein junges Gesicht, blass vor Schrecken, doch mit einem wilden Funkeln in den dunklen Augen, umrahmt von pechschwarzem Haar. War es tatsächlich möglich, oder verwirrte ein Dämon meinen Verstand?
„Das Mädchen“, flüsterte ich. „Das Mädchen, das entkommen ist ...“
Alle Blicke wandten sich zu mir.
„Komm zur Vernunft, Odo!“, sagte Hartmann. „Glaubst du etwa, ein Mädchen würde uns tagelang in der Wildnis verfolgen und mit Pfeilen auf uns schießen?“
„Unmöglich“, ließ sich nun Volkrad vernehmen. „Der Junge will uns nur in die Irre führen! Er selber saß über Godefrieds Leiche gebeugt, als ich die Lichtung betrat!“
„Ich habe nichts getan!“, verteidigte ich mich. „Ich bin über ihn gestolpert, als er bereits tot unter dem Baum lag!“
Hartmann seufzte und wandte sich ruhig an Volkrad. „Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du meinen Knappen nicht beschuldigen sollst. Er ist ein braver Bursche und ein besserer Christ als die meisten von euch.“
„Wie könnt Ihr dessen sicher sein?“, begehrte Volkrad auf. „Er war es, der das Mädchen entkommen ließ! Vielleicht hat sie ihn behext, so dass er ihrem Willen gehorcht!“
„Du redest irre!“, fuhr Hartmann auf und trat zwischen Volkrad und mich. „Wer, glaubst du, hat dort oben im Baum gesessen und auf uns geschossen? Ich sage dir: Es war ein Wende! Odo saß zu dieser Zeit mit uns allen am Lagerfeuer, und auch ihn hätten die Pfeile treffen können.“
„Ich verlange ein Gottesurteil!“, brüllte Volkrad, der vor unbändiger Wut zitterte. „Der Junge soll über glühende Kohlen laufen, um seine Unschuld zu beweisen!“
„Schluss jetzt!“, sagte Hartmann barsch und versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht. Volkrad taumelte, fiel auf den Hintern und starrte Hartmann hasserfüllt an. Einen Moment lang schien es, als wolle er aufspringen und mit seinem Dolch auf den Ritter losgehen, doch er besann sich offenbar der Tatsache, dass ihm ein Edler gegenüberstand.
„Ich schreibe deine Unvernunft der Trauer über den Tod deines Freundes zu“, sagte Hartmann streng, „und aus diesem Grund will ich dir deine Widerrede verzeihen. Nun aber gebiete ich dir, uns zurück zum Lager zu folgen und keine falschen Verdächtigungen mehr zu äußern. Wir befinden uns in großer Bedrängnis, und umso wichtiger ist es, dass wir zusammenhalten und uns nicht gegenseitig an die Kehle gehen. Hast du verstanden?“
Volkrad schniefte, wischte sich mit dem Handrücken Blut von der Oberlippe und erhob sich.
„Zurück jetzt!“, sagte Hartmann. „Nehmt den Leichnam mit, damit wir ihn begraben können.“
So kehrten wir zu unserem Lagerplatz zurück, und groß war das Entsetzen der drei zurückgebliebenen Männer, als wir statt des unheimlichen Angreifers einen weiteren unserer Gefährten tot herbeischleppten. Bis zum Morgen saßen wir eng zusammengedrängt unter den Bäumen und versuchten zu schlafen, während immer zwei Männer zugleich Wache hielten. Als sich endlich der Himmel rötete, atmeten wir auf.
Mit Mühe hoben wir unter Verwendung von Äxten und Dolchen ein flaches Grab aus, das die Körper der Toten aufnehmen sollte, und Ordulf ermannte sich, den Leichnam Wibalds von der Feuerstelle zu heben. Das Gesicht des Verbrannten bedeckte Huno mit einem Stofffetzen – wofür alle dankbar waren, denn Wibalds Haare waren bis zum Ansatz versengt, so dass man sich unschwer vorstellen konnte, welch grässlichen Anblick sein Gesicht geboten hätte. Wir beeilten uns, beide Körper mit Erde zu bedecken, dann sprach Theutbert ein Gebet, und wir schulterten unser Gepäck für den Aufbruch.
Obwohl es inzwischen heller Tag war, blieb die Stimmung gedrückt, und die Männer waren wachsam. Zwar waren wir bislang nur bei Nacht angegriffen worden, doch der Wald ringsum war dunkel und dicht, und man konnte sich unschwer vorstellen, dass erneut Pfeile aus dem Dickicht geflogen kamen. Der Weg trug nicht dazu bei, unsere Stimmung zu
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