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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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Gott“, murmelte Ordulf, während sein Sohn neben ihm halblaut betete, wie er es seit der vergangenen Nacht ständig tat. Gewöhnlich ignorierten ihn die Männer, denn sein ängstliches Geflüster drückte die Stimmung der ganzen Gruppe – als er aber begann, das Vaterunser zu sprechen, fielen sie einer nach dem anderen mit ein.
    „... und vergib uns unsere Schuld ...“
    Weiter kamen sie nicht, denn in diesem Moment fuhren alle in die Höhe und blickten entsetzt um sich. Irgendwo in der Finsternis des umgebenden Waldes schrie eine Stimme – dieselbe, die wir in der vergangenen Nacht im Moor gehört hatten – einen schrillen, langgezogenen Klagelaut.
    Hartmann war aufgesprungen, hatte sein Schwert gezogen und drehte sich um sich selbst, wobei sein Blick suchend in der Dunkelheit hin und her schoss.
    „Nein! Nein! Nein!“, stieß Theutbert hervor, barg das Gesicht in den Händen und wiegte sich vor und zurück wie ein verstörtes Kind. Die übrigen Männer hatten einen Kreis um das Feuer gebildet.
    „Das ist kein Mensch!“, flüsterte Wibald entsetzt. „Kein Mensch hat eine solche Stimme.“
    Dies waren die letzten Worte des Bauern, denn schon kam ein Pfeil aus der Dunkelheit herangepfiffen und durchbohrte seinen Bauch knapp unterhalb des Brustbeins. Alle schrien auf, während Wibald mit offenem Mund rückwärts taumelte, über einen Ast stolperte und ins Feuer stürzte. Sogleich erfassten die Flammen seinen Kittel, und er brüllte auf vor Schmerz, unfähig, sich aus eigener Kraft wieder aufzurichten.
    „Wibald!“, schrie Ulfrik, stürzte hinzu und versuchte den Unglücklichen an den Beinen zu packen. Dieser jedoch schlug und trat so verzweifelt um sich, dass Ulfrik einen Fußtritt in den Magen erhielt und seinerseits zu Boden ging. Das geschah eben im rechten Moment, denn sogleich zischte ein zweiter Pfeil über seinen Kopf hinweg.
    „Weg vom Feuer!“, schrie Hartmann.
    Ohne Zweifel bildeten unsere Gestalten vor dem Feuerschein ein leichtes Ziel. Die Gruppe stob auseinander, und auch ich warf mich hinter einem Baum in Deckung. Nun stand freilich niemand mehr dem armen Wibald bei, der bei lebendigem Leib verbrannte. Ich drehte den Kopf weg, kniff die Augen zusammen und war auf schreckliche Weise erleichtert, als sein Geschrei zu einem undeutlichen Stöhnen wurde, das im Prasseln des Feuers unterging.
    „... sondern erlöse uns von dem Bösen“, betete Theutbert, dessen Stimme sich vor Grauen überschlug.
    „Still!“, zischte Hartmann und winkte Herbort zu sich. „Woher kommen die Pfeile?“
    „Aus dieser Richtung.“ Herbort deutete nach Süden in den Wald und zog seinen Dolch. „Wir sollten ausschwärmen und diesem Spuk ein Ende machen.“
    „Nein!“, schrie Theutbert schrill. „Geht nicht in den Wald! Es sind die Geister der Wenden, die wir –“
    Ein dritter Pfeil kam herangeschossen und bohrte sich knapp über seinen Kopf in einen Baumstamm.
    „Still, sagte ich!“, schrie Hartmann. „Keinen Laut!“
    Alle verstummten, und eine Zeitlang hörte ich nichts außer dem Klopfen meines eigenen Herzens. Dann aber war ein Rascheln und Knacken zu vernehmen, in derselben Richtung, die Herbort gewiesen hatte.
    „Also gut“, sagte Hartmann und sprang auf. „Holen wir uns den Kerl!“
    Und er stürmte ohne Zögern in den Wald und verschwand nach wenigen Schritten in der Dunkelheit, dicht gefolgt von Herbort. Dieses Beispiel erweckte neuen Mut bei den verzagten Männern, und sowohl Ulfrik als auch Huno und Godefried setzten ihnen nach. Schließlich folgte noch Volkrad mit gezücktem Dolch. Ordulf und Rodmer dagegen blieben zurück, ebenso Theutbert, der zu einem zitternden Häuflein zusammengesunken war.
    Mein erster Impuls befahl, gleichfalls in der Nähe des Feuers zu bleiben – doch als ich hinsah, gewahrte ich die nackten Füße des Toten, die aus dem Holzhaufen hervorragten wie zwei verdrehte Äste. Der Anblick erinnerte mich daran, dass dieser Ort trotz Wärme und Licht alles andere als sicher war. Auch die ängstlichen Mienen der drei Zurückgebliebenen wirkten nicht eben beruhigend auf mich. Also fasste ich mir ein Herz, zog meinen Dolch und drang in den Schatten der Bäume ein.
    Hier war es stockfinster, denn das Blätterdach verbarg selbst das schwache Licht des Mondes. Zunächst überfiel mich Furcht, da ich kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Dann aber gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, so dass ich einzelne Baumstämme erkennen und mich vorsichtig voranpirschen konnte.

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