Die Tränen der Vila
ersten zehn Ellen der Brücke erfasst, dies jedoch mit einer ungeheuren Geschwindigkeit. Volkrad und Ulfrik, welche die Nachhut bildeten und daher den Flammen am nächsten waren, schrien auf, ließen ihre Bündel fallen und begannen zu rennen. Rodmer und Huno schlossen sich ihnen an, doch versperrte der Karren ihren Weg, der fast die gesamte Breite der Brücke einnahm.
„Vorwärts!“, schrie Hartmann. „Aufs andere Ufer!“
Ordulf, der beim Anblick des Feuers den Karren im Stich gelassen hatte, stieß Hartmann und mich beiseite und rannte kopflos voraus. Die überstürzte Flucht aber wurde ihm zum Verhängnis, denn plötzlich – etwa in der Mitte der Brücke – brachen die Holzbohlen unter seinen Füßen durch, und er stürzte mit einem erschrockenen Schrei ins Wasser. Keinen Herzschlag später zischte ein weiterer Pfeil heran, diesmal auf das andere Ende der Brücke gezielt, und schon stand auch der vordere Teil in hellen Flammen und verwehrte uns den Weg aufs rettende Land.
„Ordulf!“, schrie Hartmann, als wir die Unglücksstelle erreicht hatten, warf sich zu Boden und streckte die Arme durch die gebrochenen Planken hinab. Auch ich rannte hinzu und konnte erkennen, dass Ordulf etwa zwei Ellen tief unter dem Bohlenweg bis zur Brust im Wasser hing, beide Arme um einen der Stützpfeiler geschlungen.
„Helft mir!“, brüllte er. „Ich kann nicht schwimmen!“
„Nimm meine Hand!“, schrie Hartmann und beugte sich zu ihm hinab. Ich wollte mich eben niederlassen und ihm beistehen, als ich einen Schlag in den Nacken erhielt und gegen das Brückengeländer geschleudert wurde. Ulfrik stürmte an mir vorbei, sprang mit einem Satz über die Bruchstelle im Holz und rannte voraus bis zum brennenden Ende der Brücke. Einen Moment hielt er inne, dann erkletterte er das Brückengeländer, offenbar, um sich ins Wasser zu stürzen und schwimmend das jenseitige Ufer zu erreichen. Doch es kam nicht dazu, denn ein Pfeil traf ihn in die Brust, als er sich eben zum Sprung anschickte. Ulfrik drehte sich im Fall, landete mit einem gewaltigen Aufspritzen im Wasser und verschwand. Als er wieder auftauchte, trieb sein Körper bäuchlings an der Oberfläche.
Währenddessen hatte ich mich aufgerappelt und versuchte erneut, Hartmann zu Hilfe zu kommen, der noch immer am Boden lag und die Hand nach Ordulf ausstreckte. Dieser jedoch schien derart von Schrecken erfüllt, dass er sich nicht überwinden konnte, den Stützpfeiler loszulassen. Inzwischen waren auch die übrigen Männer herbeigeeilt, ratlos und entsetzt. Theutbert, Ordulfs Sohn, schrie und weinte wie ein Kind.
Mir wurde klar, dass ich etwas tun musste. Hartmann konnte nicht ins Wasser springen, denn das Gewicht seines Kettenhemds hätte ihn versinken lassen. Ich selbst trug nur einen leichten Sarrock – und schwimmen konnte ich. Also schwang ich mich kurzerhand über das Brückengeländer und kletterte außen an einem der Stützpfeiler hinab. Als ich mit den Füßen die Wasseroberfläche erreichte, schlug ein Pfeil keine Handbreit über meinem Kopf in das Holz und blieb zitternd stecken. Rasch ließ ich mich weiter hinab, sank bis zur Brust in das eiskalte Wasser des Sees und hangelte mich von einem Stützpfeiler zum nächsten, bis ich Ordulf erreicht hatte. Nun war ich unterhalb der Brücke und immerhin gedeckt gegen den Beschuss.
„Odo!“, rief Hartmann von oben herab. „Kannst du ihn an Land ziehen?“
„Ordulf!“ Ich packte den Unglücklichen beim Arm und versuchte, ihn von dem Pfeiler fortzuziehen. „Wir müssen an Land schwimmen!“
„Ich kann nicht schwimmen!“, heulte Ordulf mit geschlossenen Augen. „Zieht mich hoch!“
„Das ist zwecklos! Die Brücke wird abbrennen!“
Gleichzeitig ertönte über uns ein Schrei, und ich glaubte die Stimme Rodmers, des jungen Trossknechts, zu erkennen. Es gab einen harten Aufschlag, und die Bohlen über uns knarrten. Ich zweifelte nicht daran, dass der Todesschütze erneut zugeschlagen hatte. Mitten auf der Brücke, umgeben vom offenen Wasser, boten die Männer ein leichtes Ziel. Dies schienen die Überlebenden nun zu begreifen, denn einen Augenblick später taten Huno und Volkrad es mir gleich, kletterten seitlich am Brückengeländer herab, ließen sich ins Wasser gleiten und suchten Schutz unter dem Bohlenweg. Zugleich sah ich durch die Bruchstelle über mir, dass Hartmann sich erhoben hatte und hastig sein Kettenhemd abstreifte.
Währenddessen kämpfte ich noch immer mit Ordulf und versuchte ihn zu
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