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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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Ufer.
    „Achtung – jetzt!“
    Ich holte tief Luft, ließ mich unter die Oberfläche sinken und tauchte unter der rechten Flanke der Brücke hervor. Zwar bemühte ich mich, so lange wie möglich unter Wasser zu bleiben, doch stieß ich schon nach drei Schwimmzügen auf flachen Grund. Nun blieb mir nichts anderes übrig, als mich aufzurichten und zu laufen. Der Boden war schlammig, und ich kämpfte mich mit verzweifelter Eile vorwärts, bis ich den Schilfsaum am Ufer erreichte. Jeden Moment gewärtig, das Heransausen eines weiteren Pfeils zu vernehmen, rannte ich weiter, stolperte über eine Baumwurzel, überbrückte zwanzig Schritte offenes Gelände bis zum Waldrand und warf mich schließlich mit letzter Kraft ins Gebüsch. Einen Augenblick später erschien Hartmann, der an der linken Seite der Brücke aufgetaucht war, und tat es mir gleich.
    Einige Zeit lagen wir schwer atmend in unserer Deckung und wagten uns nicht zu rühren. Dann huschte ein Schatten heran, und ich fuhr auf und zog meinen Dolch. Doch es war nicht der unbekannte Feind, der den Busch beiseitebog und auf uns herabspähte – es war Herbort, triefend vor Nässe, doch anscheinend unverletzt.
    „Herbort!“ Hartmann setzte sich auf. „Wie bist du entkommen?“
    Der Halsabschneider grinste. „Ich tat dasselbe, was auch ihr getan habt, nur etwas früher“, sagte er. „Keine Angst – der Bogenschütze ist fort. Als er mich an Land kommen sah, sprang er aus dem Baum dort drüben und floh in den Wald.“
    „Du hast ihn gesehen?“
    „Nur flüchtig. Am Fuß des Baums aber fand ich einen Tiegel mit Pech, von derselben Art wie im Haus des Pechbrenners drüben im Dorf.“
    „Ich dachte es mir“, murmelte Hartmann kopfschüttelnd. „Ein geschickter Hinterhalt. Wer auch immer uns verfolgt, war vor uns im Dorf, hat beide Enden der Brücke mit Pech übergossen, den Baum erklettert und auf uns gewartet.“
    „Und die Bruchstelle, durch die Ordulf gestürzt ist?“, warf ich ein.
    „Die Bohlen an jener Stelle waren der Länge nach gespalten“, sagte Hartmann. „Dafür braucht man nicht mehr als eine Axt – und drüben im Haus des Schmieds lagen eine Menge Äxte herum.“ Er wandte sich wieder Herbort zu. „Wer ist sonst noch entkommen?“
    „Niemand.“
    „Niemand? Was ist mit Volkrad?“
    „Er schwamm auf den See hinaus, aber der Bogenschütze hat ihn erwischt – er treibt irgendwo dort draußen mit einem Pfeil im Rücken.“
    „Und Theutbert?“
    „Geriet in Panik und versuchte, durch die Flammen hindurch an Land zu flüchten. Fast hätte er es sogar geschafft, aber eine der durchgeschmorten Planken brach unter seinen Füßen. Er blieb stecken, mitten im Feuer ... kein schöner Tod.“
    Ich schauderte. Seine ständigen Gebete hatten dem Jungen am Ende nichts genützt.
    „Soll das heißen“, fragte Hartmann langsam, als hätte er Mühe, die schreckliche Wahrheit zu erfassen, „dass nur noch wir drei am Leben sind?“
    Herbort nickte.
    Der Ritter seufzte. „Ich bin froh, dass wenigstens du noch bei mir bist“, sagte er – womit er unzweifelhaft Herbort und nicht mich meinte.

Wie mein Herr verwundet wurde
    Sechs Männer hatten bei dem Anschlag auf der Brücke ihr Leben gelassen, und unsere gesamte Ausrüstung, der Karren, die Nahrungsmittel und die übrige Beute waren verloren. Dunkelheit legte sich über den Wald, und wir wussten nicht, ob unser Feind noch immer in der Nähe auf uns lauerte. So blieben wir in unserem Versteck und wagten nicht einmal, ein Feuer zu entzünden und unsere Kleider zu trocknen, während drüben am Seeufer die Brücke niederbrannte. Keiner von uns schlief; stattdessen beobachteten wir schweigend die Feuersbrunst.
    Beim ersten Tageslicht erhob sich Hartmann zum Aufbruch. Eine Weile beriet er mit Herbort über die Richtung, während ich teilnahmslos dabeisaß und ihrer Entschlüsse harrte. Schließlich kamen sie überein, nicht auf dem Weg zu wandern, der von der Brücke aus weiter nach Süden führte, sondern rechts von ihm in der Deckung des Waldes zu bleiben. Also zogen wir los und pirschten durch Bäume, Büsche und Unterholz, wachsam und jederzeit eines neuerlichen Angriffs gewärtig. Es war eine mühselige Wanderung, denn der Wald war dicht, und oft mussten wir Erdverwerfungen, Gräben oder Bäche überqueren. Mehrmals gelangten wir an das Ufer eines Sees, doch waren es stets kleinere Gewässer, keine Ausläufer des großen Sees, den wir suchten. In diesem verwunschenen Land schien es derart viele Seen zu

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