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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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eine Weile abschätzend an. „Wahrscheinlich wirst du in der Wildnis verhungern“, sagte er schließlich. „Doch es ist wohl sicherer, wenn ich dir gleich jetzt die Kehle durchschneide.“
    Ich fühlte, wie mir die Knie zu zittern begannen. „Herbort, bitte! Was willst du dem Ritter sagen?“
    „Dass du fortgelaufen und verschwunden bist – und das ist ja schließlich auch die Wahrheit, oder?“
    Er lächelte und hob seinen Dolch.
    Nie im Leben traf ich eine schnellere Entscheidung als in diesem Moment. Binnen eines Herzschlags war ein tollkühner Plan in meinem Geist entstanden, und die Todesangst verlieh mir den nötigen Mut. Mit einer blitzschnellen Bewegung tauchte ich unter Herborts ausgestrecktem Arm weg, warf mich zur Seite und rannte aus dem Schutz der Bäume mitten auf die Lichtung. Herbort setzte mir nach. Er mochte klein und hager sein, doch er war auch flink und wendig, und so wie dem schnellen Wiesel kein Kaninchen entflieht, konnte auch ich ihm nicht entkommen. Dennoch rannte ich weiter und richtete meinen Blick auf den Baum am anderen Ende der Lichtung, in dessen dichter Krone ich vorhin eine Bewegung wahrgenommen hatte.
    Und da war sie wieder: Ein Ast schwankte leicht, die Blätter raschelten, und das Sonnenlicht ließ eine metallene Spitze aufgleißen. Augenblicklich brach ich seitlich aus, schlug einen Haken und versuchte, den Waldrand zur Linken zu erreichen. Herbort jedoch hatte meine Richtungsänderung erfasst und schnitt mir den Weg ab. Er bekam die Schöße meines Sarrocks zu fassen, riss mich mitten im Lauf zu Boden und wälzte sich über mich. Mit entsetzlicher Kraft drückte er mich zu Boden, hob den Dolch und zielte auf meine Kehle. Ich packte mit beiden Händen seinen Arm, um ihn von mir wegzudrücken, und so rangen wir stumm, während die Dolchspitze zitterte. Sein hageres Gesicht hing über mir, nun jeden falschen Lächelns bar und zur Fratze eines mordlüsternen Tiers verzerrt. Die Klinge senkte sich weiter und weiter, bis sie nur noch einen Fingerbreit über meiner Haut schwebte.
    Dann plötzlich zuckte Herborts Körper über mir, als hätte er einen Schlag in den Nacken erhalten. Ungläubig blickte ich auf die Pfeilspitze, die seinen Nacken durchschlagen hatte und knapp oberhalb des Schlüsselbeins aus seinem schmutzigen Kittel ragte. Herbort schrie nicht, doch sein Kopf ruckte nach hinten, und für die Dauer eines Herzschlags erschlaffte der Griff seiner Hand. Ich nutzte die Gelegenheit, stieß ihn mit aller Kraft von mir und rollte mich seitlich weg. Im nächsten Augenblick stand ich auf den Füßen, doch auch der Halsabschneider war aufgesprungen und schickte sich ungeachtet seiner Verwundung an, mir nachzusetzen. Wieder rannte ich los – und diesmal erreichte ich den Schutz der Bäume, während Herbort noch einige Schritte hinter mir war.
    Der zweite Pfeil traf seinen Oberschenkel. Herbort stolperte und sank zu Boden, keine fünf Ellen von der rettenden Deckung entfernt. Einen Moment lang versuchte er wieder aufzustehen, doch das Bein versagte ihm den Dienst, und so zog er sich auf Händen und Knien vorwärts.
    Ich selbst war hinter einen Baum getreten und beobachtete, wie er auf mich zukroch, den Dolch noch immer in der Hand. Er sah zu mir auf, und seine Augen blitzten.
    „Odo!“, zischte er und streckte die freie Hand aus. „Hilf mir! Zieh mich hinter den Baum!“
    Mein Leben lang habe ich nie einem Menschen Hilfe verweigert, oft auch Hilfe geleistet, ohne dass sie erbeten wurde – nicht jedoch in diesem Augenblick. Stattdessen machte ich einen Schritt rückwärts und zog mich tiefer in den Schatten zurück.
    Herbort kam bis zu den äußersten Wurzeln des Baums, dann schwirrte ein dritter Pfeil heran und fuhr von hinten in seinen Rücken. Seine Arme knickten ein, sein Kopf sank herab. Dann lag er still. Ich aber wandte mich um und rannte, so schnell ich konnte, fort vom Ort des Geschehens und tiefer in den Wald hinein. Dabei schlug ich, ohne mir dessen recht bewusst zu sein, den Rückweg zu unserem Lagerplatz ein.
    Ich war noch nicht weit gekommen, als ich Hartmann zwischen den Bäumen auftauchen sah.
    „Odo! Dank sei Gott!“
    Erstaunt sah ich, dass Erleichterung in seinen Zügen zu lesen war, und noch größer war mein Erstaunen, als er mich umarmte wie einen verlorenen Sohn.
    „Ich dachte schon, der Bogenschütze hätte dich erwischt.“
    „Nicht mich“, erwiderte ich, durch die Wärme seiner Stimme recht verwirrt. „Aber ...“
    „Herbort?“, erriet

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