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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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er.
    „Er kam nicht zurück, und da habe ich nach ihm gesucht“, schwindelte ich und beruhigte mein Gewissen damit, dass für die ganze Wahrheit noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen war.
    „Wo ist er?“
    Hartmann bestand darauf, den Ort des Geschehens selbst in Augenschein zu nehmen, und so führte ich ihn zu der Lichtung, wo wir uns unter größter Vorsicht im Schatten der Bäume anpirschten.
    „Der Schütze saß dort drüben in der großen Eiche“, sagte ich und deutete hinüber. „Ich habe die Pfeilspitze zwischen den Blättern gesehen.“
    „Bleib hier!“, befahl Hartmann und huschte von Baum zu Baum rund um die offene Grasfläche, bis er die Eiche erreicht hatte. Dort zog er sein Schwert, sprang aus der Deckung und spähte in die Baumkrone hinauf. Schließlich winkte er mir zum Zeichen, dass keine Gefahr drohte.
    Wir trafen uns bei Herborts Leiche, die noch immer am Rand der Lichtung lag, in der einen Hand den Dolch, die andere um eine Baumwurzel gekrallt.
    „Nun sind wir beide wieder allein, Odo“, sagte Hartmann und betrachtete den Toten. „Wahrhaftig ein Unglück – er war ein guter Mann.“
    Es lohnte nicht, ihm zu widersprechen. Stattdessen empfand ich, wie ich offen gestehen muss, eine gewisse Genugtuung angesichts seines milden Bedauerns. Fraglos hatte er Herbort geschätzt, doch seine Worte zeugten nicht von allzu großer Trauer. Mich dagegen hatte er vermisst, gesucht und sogar umarmt – und ich ertappte mich bei dem Gedanken, wie er reagiert haben würde, wenn an Herborts statt mein eigener Leichnam hier gelegen hätte.
    „Wir können ihn nicht einmal begraben, weil wir kein geeignetes Werkzeug mehr haben“, fügte Hartmann hinzu. Dann blickte er wieder zu der Eiche hinüber, aus deren Krone die Todesschüsse gekommen waren.
    „Wer ist dieser Wende?“, murmelte er stirnrunzelnd. „Er gebraucht den Bogen wie ein Meisterschütze und klettert wie ein Marder. Doch wie gelingt es ihm, unseren Weg vorherzusehen und uns immer ein paar Stunden voraus zu sein? Braucht er keine Nahrung und keinen Schlaf?“
    Ich schwieg, denn darauf wusste ich ebenso wenig eine Antwort wie er.
    „Jedenfalls habe ich eines begriffen“, fuhr Hartmann fort. „Er wird keine Ruhe geben, solange noch einer von uns am Leben ist. Doch auch ich werde nicht aufgeben, solange ich noch mein Leben habe, mein Schwert – und dich, meinen treuen Knappen. Bist du bereit, es an meiner Seite mit diesem Feind aufzunehmen?“
    Vor einer Stunde noch hatte ich diese Frage innerlich verneint. Nun aber brachte ich es nicht mehr über mich, sein Vertrauen zurückzuweisen.
    „Ja, Herr“, hörte ich mich sagen.
    Vielerlei Schwächen und Sünden mochte man Hartmann nachsagen, doch seine Entschlossenheit angesichts verzweifelter Notlagen beeindruckte mich aufs Neue. Keineswegs gab er die Hoffnung auf, das Heerlager zu erreichen; im Gegenteil erging er sich in ausführlichen Erwägungen der Marschrichtung und neuer Maßnahmen zu unserem Schutz. Deren erste war, dass wir aus Bruchholz einen Schild fertigten, der uns in offenem Gelände Deckung verleihen sollte. Das war nicht einfach, denn wir verfügten über keinerlei Werkzeug abgesehen von Dolch und Schwert. Dennoch gelang es uns, ein mannshohes Viereck aus zugeschnitzten Hölzern zusammenzufügen, die wir in mühevoller Arbeit mit Weidenzweigen verflochten. Die Arbeit dauerte bis zum Abend, und als es dunkel wurde, gebot Hartmann mir zu schlafen.
    „Diesmal werde ich wachen“, sagte er und setzte sich mit dem Rücken an einen Baum. „Ich habe dir ein paar Stunden Schlaf voraus, und morgen früh brauche ich dich frisch und munter.“
    Tatsächlich gelang es mir zu schlafen. Dunkle Stunden gingen dahin, bis ich lange nach Mitternacht hochschreckte. Ein Schrei hallte von fern durch die Nacht – jener nun schon vertraute, darum aber nicht weniger unheimliche Schrei eines Wesens, das Mensch, Tier, Dämon oder alles in einem sein mochte. Am ganzen Körper zitternd setzte ich mich auf, und für Augenblicke ergriff mich nackte Furcht, da der Wald ringsum stockfinster war und die Baumwipfel selbst das Mondlicht verbargen. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte mich zu erinnern, wo Hartmann gesessen hatte, als ich eingeschlafen war. War er fortgegangen und dem namenlosen Rächer in die Hände gefallen? Kündete der Schrei von seinem Tod?
    „Still“, flüsterte eine Stimme kaum zwei Ellen neben mir, und die Erleichterung ließ mich aufatmen.
    „Herr?“
    „Mach kein

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