Die Tränen der Vila
sind kalt. Warum tragt ihr sein Bild bis hierher?“
„Christus will, dass alle Menschen an ihn glauben, egal, wo sie leben“, erklärte ich – und fragte mich zugleich, warum ich aus reiner Gewohnheit Partei für einen Glauben ergriff, an dem ich längst zweifelte.
„Aber warum?“, fragte Lana. „Kann denn nicht jedes Land seine eigenen Götter haben? Bei uns hat jedes Gebiet, jeder Wald, jeder Fluss und jeder Stamm einen eigenen Gott. Wir Obodriten verehren Svarozic, den Sonnenherrscher, die Ranen den vierköpfigen Svantevit, die Vineter den Triglav, die Wagrier den Prove. Auch Dörfer und sogar die Häuser der Familien haben eigene Hausgötter.“
Ich staunte, denn diese Vorstellung war mir so fremd, dass ich ihre ganze Bedeutung kaum erfassen konnte. Ein Gott für jeden Landstrich, ja, für jedes Haus? Mir war beigebracht worden, dass es nur einen Gott gab – und dass er keine anderen Götter neben sich duldete.
„Unsere Priester sagen aber, dass alle Völker der Welt an Christus glauben müssen“, erklärte ich schließlich.
„Warum?“
„Weil er für die Sünden der ganzen Welt gestorben ist, auch für deine und meine. Nur wenn du an Christus glaubst, vergibt Gott dir deine Sünden.“
„Sünden?“, fragte Lana – denn ich hatte, ohne nachzudenken, das deutsche Wort gebraucht, dessen wendische Entsprechung ich nicht kannte. „Was ist ‚Sünde’?“
„Sünde ist, wenn man etwas tut, das Gott verboten hat.“
„Was zum Beispiel?“
„Gott sagt: Ehre keinen anderen Gott außer ihm; schaffe keine Götzenbilder; missbrauche seinen Namen nicht; arbeite nicht am Sonntag; gehorche Vater und Mutter; töte nicht; brich nicht die Ehe; raube nicht; gib kein falsches Zeugnis und begehre nicht die Habe deines Nächsten“, rezitierte ich, was ich gelernt hatte.
Lana blickte mich nachdenklich an. „Seltsam“, sagte sie schließlich. „Euer Gott scheint euch zu misstrauen; er gibt euch nur Verbote. Er sagt: Tut dies nicht, tut das nicht. Unsere Götter sind anders. Sie sagen uns, was sie wünschen, welche Opfergaben sie erfreuen, welche Speise ihnen schmeckt und welche Tiere ihnen heilig sind, und sie geben uns Rat durch Orakelsprüche und beschützen uns durch ihre Macht. Euer Gott sagt euch nur, was ihr nicht dürft – und ihr tut es trotzdem, nicht wahr? Denn tötet ihr etwa nicht? Raubt ihr nicht? Begehrt ihr nicht dieses Land, das anderen gehört?“
Nun war ich es, der nachzudenken hatte, denn ich spürte, dass ihre Worte Wahrheit enthielten.
„Aber nur Christus kann uns vor dem Teufel beschützen“, versuchte ich einzuwenden.
„Teufel?“ Lana runzelte die Stirn. „Meinst du den schwarzen Gott?“
„Den schwarzen Gott? Nein, der Teufel ist kein Gott, er ist Gottes Feind.“
„Natürlich ist er ein Gott!“, sagte Lana ernsthaft. „Bei uns heißt es, dass er gemeinsam mit Svarog die Welt erschuf. Beide nahmen die Gestalt von Vögeln an. Der weiße Vogel gab dem Menschen die Seele, der schwarze den Leib. Darum ist es bei uns Sitte, dass wir beide Götter ehren, den schwarzen wie den weißen.“
„Nein!“, begehrte ich auf, denn nun regte sich ein letzter Rest meiner christlichen Erziehung. „Der Teufel ist böse! Er verführt die Menschen zur Sünde. Er lockt sie vom rechten Weg fort, durch Anbetung fremder Götter, durch leibliche Genüsse, durch Wein, durch Unzucht …“
„Was ist Wein?“
„Ein berauschendes Getränk aus Trauben.“
„Wir trinken Met aus Bienenhonig. Ist das auch Sünde?“
Ich verstummte ratlos.
„Und was ist ‚Unzucht’?“, setzte sie nach.
„Das ist …“ Ich zögerte begreiflicherweise. „… wenn man eine Frau begehrt, mit der man nicht verheiratet ist.“
Lana lächelte, und ihre dunklen Augen blitzten schalkhaft. „Dann bist du ein Sünder, Odo!“
„Ich weiß“, sagte ich düster. „Natürlich bin ich ein Sünder. Jeder Mensch ist einer. Niemand ist so, wie Gott ihn gewollt hat; jeder hat Grund, die Gnade des Allmächtigen zu erflehen.“
Erneut runzelte sie die Stirn. „Das erscheint mir grausam.“ Es klang fast mitleidig. „Alles Schöne ist bei euch verboten. Ich glaube, euer Wüstengott hat Menschen nicht besonders gern und würde am liebsten die ganze Welt zu einer Wüste machen. Vielleicht ist das der Grund, warum ihr lieber Krieg in fernen Ländern führt, als eure Frauen zu lieben und daheim in euren Dörfern glücklich zu sein. Wenn Liebe eine Sünde ist, dann steht doch die ganze Welt auf dem
Weitere Kostenlose Bücher