Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
Vom Netzwerk:
schrie plötzlich eine Stimme hinter uns. „Das wirst du nicht, Sjostje!“
    Erschrocken fuhren wir auseinander. Lana sprang katzengleich auf die Füße, und auch ich rappelte mich auf und starrte entgeistert zum Rand der Lichtung hinüber. Eine Gestalt war hinter einem Baum hervorgetreten, mit geballten Fäusten und drohend vorgeneigtem Oberkörper. Das Licht der sinkenden Sonne fiel auf ein jugendliches Gesicht, und ich erkannte Ladislav. Erschrocken wich ich zurück, wurde mir plötzlich meiner Nacktheit bewusst und haschte nach meinem Gewand, um es mir schützend vor den Leib zu drücken.
    Nicht so Lana. Statt ihrerseits zurückzuweichen, stellte sie sich dem Störenfried breitbeinig gegenüber, stemmte die Hände in die Seiten und blickte ihn wütend an.
    „Was tust du hier?“, fragte sie. „Wie lange lauschst du schon dort hinter dem Baum?“
    „Lange genug“, gab Ladislav zurück, „um zu sehen, welchen Frevel du hier treibst! Er ist ein Sjostje, Lana! Ein Feind! Wie kannst du dich mit ihm abgeben?“
    „Odo ist kein Feind! Pribek hat ihn und seinen Herrn als Gäste im Lager aufgenommen.“
    „Er ahnt ja auch nicht, was du mit dem Sjostje treibst!“, versetzte Ladislav drohend. „Aber ich könnte dafür sorgen, dass er es erfährt.“
    „Gut“, sagte Lana trotzig. „Wir wollten sowieso mit Pribek sprechen – nicht wahr, Odo?“
    Ich nickte beklommen.
    „Lana“, sagte Ladislav etwas ruhiger. „Sei vernünftig und sag es ihm nicht! Auch ich werde dich nicht verraten, wenn …“
    „Wenn was?“ Aus ihren Augen sprühten Funken.
    „Wenn du dich von dem Sjostje trennst“, sagte er. „Das ist das Beste für dich, sieh es ein!“
    „Du meinst wohl: Du wärst das Beste für mich!“, platzte Lana heraus. „Glaubst du, ich hätte nicht bemerkt, wie du mir nachstellst? Schon vor zwei Monaten beim Sonnwendfest bist du mir nachgeschlichen – aber damals war ich ja noch die ‚schwarze Krähe’, und kaum hatte Nadevka dich ertappt, bist du geflüchtet!“
    Ladislav errötete und biss sich auf die Lippen. „Lana“, sagte er schließlich, „ich habe viel nachgedacht seitdem. Mir ist klargeworden, dass ich … dass ich dich …“
    „Du hast zu lange nachgedacht“, sagte Lana mit einer ungewohnten Kälte in der Stimme. „Es ist zu spät, Ladislav.“ Sie warf sich ihr Kleid über und griff nach meiner Hand. „Komm, Odo, wir gehen jetzt zu Pribek. Wenn wir Glück haben, ist er noch wach.“
    „Nein!“, schrie Ladislav erneut. „Das werdet ihr nicht!“
    Lana antwortete nicht mehr, sondern zog mich zum Rand der Lichtung. Ladislav, der erkannte, dass wir den Rückweg zum Lager einschlugen, rannte los, um uns zu folgen. Da er jedoch nicht wagte, die Lichtung zu überqueren, musste er sie zur Hälfte umrunden, so dass wir einen Vorsprung gewannen. Dennoch blickte ich mich nervös um, denn ich erwartete, dass er uns einholen und sich in seinem Zorn auf mich stürzen würde.
    „Beachte ihn gar nicht“, sagte Lana, immer noch mit jener kühl entschlossenen Stimme, und drückte meine Hand.
    Dann plötzlich ein Rascheln – das Geräusch brechender Zweige – ein fernes Trampeln und Schnauben. Erneut fuhr ich herum, und diesmal blieb auch Lana stehen.
    „Ladislav?“
    Er stand etwa dreißig Schritte hinter uns, immer noch nahe der Lichtung, doch er wandte uns den Rücken zu und starrte nach Norden ins Dunkel des Waldes. Lichter wie von Fackeln waren zwischen den Bäumen aufgeflammt und näherten sich rasch. Auch die Geräusche kamen näher, und ich erkannte ein Getrappel von Pferden, rauhe Männerstimmen und das Scharren schwerer Stiefel im Gras. Es klang, als näherte sich eine ganze Armee, und irgendeine Ahnung sagte mir, dass es sich nicht um Wenden handelte.
    „Wir müssen fort! Schnell!“, raunte ich Lana zu.
    Sie wechselte einen entsetzten Blick mit mir, rührte sich jedoch nicht, sondern blickte zu Ladislav hinüber.
    „Ladislav! Komm schnell!“
    Noch ein zweites Mal rief sie; er jedoch schien wie erstarrt – und dies besiegelte sein Schicksal. Als er sich endlich umwandte und die Flucht ergreifen wollte, brachen zwischen den Bäumen jenseits der Lichtung die Gestalten vieler Männer hervor.
    Lana und ich rannten los. Hinter uns hörten wir Geschrei, hastende Füße, das Geräusch eines Schwertes, das aus der Scheide gezogen wurde – dann einen Schlag, ein Stöhnen, einen Aufprall auf weichem Boden. Ich blickte nicht zurück, doch ich hatte keinen Zweifel, dass die Truppe in

Weitere Kostenlose Bücher