Die Tränen der Vila
mörderischer Absicht gekommen und der junge Ladislav unter ihren Schlägen gefallen war.
Wir rannten um unser Leben. Tatsächlich erreichten wir das Lager vor unseren Verfolgern, doch die Zeit genügte keineswegs, um die Menschen zur Verteidigung zu rufen. Die meisten schliefen bereits, nur Pribek, der Älteste, saß noch mit einer kleinen Gruppe von Männern vor seinem Zelt.
„Feinde!“, schrie Lana und rannte geradewegs auf ihn zu. „Sie kommen von Norden aus dem Wald!“
Ich war eben erst die Böschung herabgesprungen und wollte ihr nachsetzen, fühlte mich jedoch beim Arm gepackt und blickte in das besorgte Gesicht meines Herrn.
„Was ist los?“
„Sie kommen!“, stieß ich atemlos hervor.
„Wer?“
„Bewaffnete Männer – hundert oder mehr!“
Hartmann erbleichte, stützte sich mit der linken Hand auf seine Krücke und zog mit der rechten sein Schwert. Ich drängte mich an seine Seite, und im nächsten Moment war auch Lana wieder da und ergriff meine Hand, während die Wenden aus ihren Zelten hervorstürzten und sich verwirrt nach dem Grund des Aufruhrs umsahen.
Im nächsten Moment schien es, als ob eine Springflut aus dem Wald hervorbrach und in die Senke flutete: Unzählige Bewaffnete tauchten aus dem Schatten der Bäume und sprangen die Böschung herab. Einige schwangen Schwerter, andere Äxte und Speere, wieder andere trugen brennende Fackeln. Ein Dutzend Reiter folgte ihnen, in Kettenpanzer gehüllt und mit Lanzen bewaffnet. Einer von ihnen, ein blonder Hüne mit geflochtenem Bart, trug eine Standarte mit dem heiligen Kreuz, reckte das Feldzeichen über der heranbrausenden Kriegerschar und schrie Worte, die ich nicht verstehen konnte – sie klangen weder Deutsch noch Wendisch.
„Die Dänen!“, rief Hartmann mir zu, stieß sein Schwert in den Boden und hob die Hand, als die Krieger auf uns zustürmten. „Wir sind Kreuzfahrer!“, schrie er. „Saxones! Saxones! Christen!“
Einige der Männer umringten uns misstrauisch und richteten die Spitzen ihrer Speere auf uns. Ich zitterte vor Furcht, als ich in ihre grimmigen Gesichter blickte, die von Wind und Wetter gegerbt und von dichtem blondem Haar umgeben waren. Lana drückte sich ängstlich an meine Seite, und unwillkürlich schlang ich beide Arme um sie.
Dann erst gewahrte ich, dass die übrigen Krieger weitergestürmt waren und die Zelte erreicht hatten. Ich hatte gehofft, sie würden rasch erkennen, dass sie es mit harmlosen Bauern zu tun hatten – und offensichtlich erkannten sie es recht gut, ohne jedoch in ihrer Raserei innezuhalten. Schon ertönten die ersten Schreie, und obwohl die Männer mir die Sicht auf das Lager verstellten, ahnte ich, dass ein Massaker seinen Lauf nahm.
„Nein!“, schrie ich. „Verschont sie! Sie haben uns friedlich aufgenommen!“
„Odo!“, sagte Hartmann scharf und hielt mich beim Ärmel.
„Sie bringen sie alle um!“, rief ich, versuchte mich loszumachen und griff unwillkürlich nach meinem Gürtel, in dem früher der Dolch gesteckt hatte. Ein wilder und gänzlich unvernünftiger Drang hatte mich ergriffen, den Angreifern Widerstand zu leisten, obwohl wir umzingelt und hoffnungslos unterlegen waren. Die umstehenden Männer jedoch drangen sofort drohend auf mich ein und richteten ihre Speerspitzen auf meinen Hals.
„Aber wir müssen doch etwas tun!“, schrie ich.
„Sei still, Odo!“, zischte Hartmann und verstärkte seinen Griff um meinen Arm. „Sie töten uns, wenn wir eingreifen.“
Als ich erneut Anstalten machte, mich ihm zu entwinden, war es plötzlich Lana, die mich umklammerte und zur Ruhe zwang.
„Nein!“, flüsterte sie, und ich erstarrte, während die Geräusche hinter uns zu einem grauenhaften Chaos anschwollen. Tränen der Ohnmacht und Verzweiflung stiegen mir in die Augen, und ich senkte den Kopf, während Lana das Gesicht in meiner Halsbeuge vergrub. Ich sah ein, dass es nichts gab, was wir zur Rettung der Menschen im Lager tun konnten. Wir waren nur zu dritt: ein einbeiniger Ritter, ein unbewaffneter Jüngling und ein Mädchen. So blieb uns nichts anderes übrig, als unter Seelenqual den Schreien zu lauschen, die zu uns herüberdrangen. Ich hatte die Augen geschlossen, doch sah ich im Geiste deutliche Bilder dessen, was die Geräusche bezeugten: Die wenigen Wenden, denen es gelungen war, rechtzeitig ihre Waffen zu ergreifen, wurden von einer Übermacht bedrängt und erbarmungslos getötet. Verzweifeltes Geschrei vieler Kinder war zu hören, aber auch das der Frauen.
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