Die Tränen der Vila
offenbar als beschämend.
„Erik! Sagtest du nicht, dass keiner das Wendenmädchen anfassen soll?“, rief einer der Kerle drüben am Feuer.
Erik bebte vor Wut, schien anfänglich nicht zu wissen, gegen wen er seinen Zorn wenden sollte, und schritt schließlich drohend auf Hartmann zu, der ihn verraten hatte.
„Du willst sie wohl für dich allein haben, was?“, rief ein zweiter Mann spöttisch herüber.
„Er hat versucht, sie zu küssen – ich hab’s genau gesehen!“, schrie ein dritter.
„Erik liebt eine Heidin!“, johlte ein anderer.
Dies gab den Ausschlag. Der Hauptmann wandte sich von uns ab, stieß ein wütendes Gebrüll aus und stürmte auf das Lagerfeuer zu. Dieselben Männer, die sich eben noch im Bewusstsein ihrer Einigkeit über ihn lustig gemacht hatten, schossen erschrocken von ihren Plätzen hoch. Erik griff aus Geratewohl einen der Spötter beim Kragen und streckte ihn mit einem Faustschlag zu Boden. Als Nächster war Gunnar an der Reihe, der das Unglück hatte, durch allzu viel Metgenuss in seiner Abwehr beeinträchtigt zu sein. Auch er fing sich einen Schlag ein und flog einige Ellen weit durchs Gras, bevor er liegen blieb. Inzwischen jedoch hatte sich Eriks erstes Opfer wieder aufgerappelt und suchte todesmutig Rache für einen ausgeschlagenen Zahn. Einer seiner Kameraden sprang ihm bei, während zwei andere versuchten, Erik zu bändigen – mit dem Erfolg, dass in kürzester Zeit eine allgemeine Keilerei im Gange war.
Ich atmete auf und blickte zu Lana hinüber, die ungewöhnlich blass war, mir jedoch mit einem Nicken ihre Unversehrtheit bestätigte. Hartmann, der mich endlich von meinem Knebel befreit hatte, verschränkte die Arme und beobachtete amüsiert das Chaos drüben beim Feuer.
„Nicht zu glauben“, sagte er kopfschüttelnd. „Ich möchte wissen, wie man mit solchen Kerlen einen Krieg gewinnen soll.“
Inzwischen war der Aufruhr so groß geworden, dass Knut von Jütland mit gezogenem Schwert aus seinem Zelt stürzte. Sosehr die Männer auch in Rage waren, der Respekt vor ihrem Heerführer schien sie zur Vernunft zu bringen. Die meisten ließen vom Streit ab, während Knut mit wütend erhobener Stimme Rechenschaft über den Vorfall verlangte. Wir beobachteten, wie er Erik zur Rede stellte und schließlich die gesamte Truppe mit barschen Worten anwies, die Nachtruhe einzuhalten. Einige Männer, unter ihnen Gunnar, schickte er strafweise zum Wachdienst fort, und sie trollten sich mit verdrießlichen Gesichtern. Die übrigen ließen sich wieder beim Feuer nieder, in sicherem Abstand zu Erik.
„Das war eine gute Idee“, sagte ich anerkennend zu Hartmann. „Ich danke Euch für Euer Eingreifen.“
Hartmann winkte ab. „Keine Ursache. Aber wir sollten auf dein Mädchen achtgeben. Ich fürchte, dieser Erik meint es ernst mit ihr.“
Lana hatte sich an den Baumstamm gekauert und die Arme um die Knie geschlungen. Noch immer trug sie ihr steinernes Gesicht, eine Mischung aus zornigem Trotz und Verstörtheit.
„Geht es dir gut?“, fragte ich.
Sie nickte abwesend.
„Hab keine Angst! Die Männer werden jetzt schlafen. Es wird dir nichts geschehen.“
Es brach mir das Herz, sie nicht in die Arme nehmen zu können. In meiner Not riss ich einen langen Grashalm aus, lehnte mich so weit zu ihr hinüber, wie das Halseisen es gestattete, und strich ihr mit der Spitze über die Wange.
Sie schenkte mir ein schwaches Lächeln.
„Ich werde wach bleiben und auf dich aufpassen“, versprach ich.
Tatsächlich blieb ich wach, bis Erik und seine Kumpane sich lange nach Sonnenaufgang zu regen begannen. Dann löste Hartmann mich ab, so dass ich selbst zu einigen Stunden Schlaf kam. Am Mittag erschien ein unbekannter Mann, um unsere Wassernäpfe zu füllen und uns ein paar Essensreste zuzuwerfen. Zunächst hielt ich das für ein gutes Zeichen, glaubte ich doch, dass der Hauptmann Lana künftig in Ruhe lassen würde. Leider irrte ich mich, wie sich später noch herausstellen sollte.
Einstweilen verging der Tag, ohne dass unsere missliche Lage irgendeine Veränderung erfuhr. Wir saßen so dicht beieinander, wie unsere Ketten es zuließen, und zu unserer Zerstreuung bat ich Lana, Geschichten aus ihrer Kindheit und von den Bräuchen der Wenden zu erzählen. Sie tat es mir zuliebe, obwohl sie noch immer still und in sich gekehrt wirkte. Es war seltsam, doch jene Geschichten, in denen die Menschen zu Ehren des Frühlings auf ihren Dorfplätzen feierten und Geisterwesen auf Waldlichtungen
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