Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
Vom Netzwerk:
das plötzliche Erscheinen der Wenden für unser Schicksal bedeutete. Lana jedoch war aufgesprungen, reckte den Männern beide Arme entgegen und schrie etwas in ihrer Sprache, das ich nicht verstand. Während die Krieger den betäubten Erik fortschleiften, trat einer von ihnen, ein noch junger Mann mit dunklem Haar, zu ihr hinüber. Er hob seine Axt und hieb mehrmals kraftvoll auf die Kette ein, bis die eisernen Glieder mit einem hellen Klingen zersprangen. Dann eilte er zu Hartmann und mir.
    „Duck dich!“, zischte Hartmann mir zu, denn in ungläubigem Erstaunen hatte ich einfach dagestanden und den Mann angestarrt, der mit der erhobenen Waffe auf uns zuhielt. Wir gingen in die Knie, und der Krieger schwang erneut die Axt, wobei er auf die Stelle zielte, wo die Endglieder unserer Ketten im Baumstamm verankert waren. Ich schloss die Augen und fühlte die Erschütterungen des eisernen Kragens an meinem Hals. Dann plötzlich spürte ich, dass ich frei war.
    Hartmann, der die dänische Gefangenschaft nicht mit der wendischen vertauschen wollte, versuchte ins Gebüsch hinter den Bäumen zu fliehen – doch das verletzte Bein versagte ihm den Dienst, und er stolperte. Der junge Wende, der seine Absicht missdeutete, packte seinen Arm, um ihn zu stützen.
    „Hier entlang!“, sagte er auf Wendisch. „Schnell!“
    Als ich Hartmann folgen wollte, flog Lana in meine Arme. Endlich von den Fesseln befreit, drückte ich sie glücklich an mich, bis unser Retter erneut zur Eile trieb.
    „Vorwärts!“, rief er, packte Lana am Ärmel und zog uns mit sich.
    Inzwischen hatte das Hornsignal die Dänen zu den Waffen gerufen. Rasch wandten sich die Angreifer zur Flucht, und wir liefen mit, wobei ich Lanas Hand ergriff, um sie im Gedränge nicht zu verlieren. Nicht einen Augenblick kam es mir in den Sinn, mich zu widersetzen, obwohl ich wusste, dass unsere Begleiter uns wahrscheinlich in die Burg bringen würden. Alles andere war mir lieber als die Gefangenschaft bei den Dänen. Selbst Hartmann hatte jegliche Gegenwehr aufgegeben, obwohl er aufgrund seiner Beinverletzung eher mitgeschleift wurde als eigenständig lief.
    Wir erreichten den Wassergraben und überquerten die Brücke, wo ich die Mauern der Festung wie eine schwarze Wand vor dem Nachthimmel aufragen sah. Ich hatte erwartet, dass man uns zum Tor führen würde, doch das war überraschenderweise nicht der Fall. Stattdessen wandten sich die Männer am Fuß des Walls nach rechts und schlugen sich zum Seeufer hinab. Der steile Abhang grenzte hier unmittelbar ans Wasser, so dass nur ein schmaler Uferstreifen von kaum drei Schritten Breite verblieb. Ebendiesen Weg nahmen die Wenden, wobei sie sich in einer langen Schlange formieren mussten, da nicht mehr als zwei Männer nebeneinander laufen konnten. Sie strebten auf eine bestimmte Stelle an der Steilwand zu und scharten sich um eine Öffnung, die direkt ins Erdreich hineinführte. Ungläubig sah ich, wie ein Mann nach dem anderen sich duckte und hastig in dem Schacht verschwand. Schließlich war Hartmann nebst seinem Begleiter an der Reihe; dann durchquerten Lana und ich den Spalt, der knapp die Höhe eines Menschen besaß. Hinter uns drängten die letzten Krieger nach, und ich bemerkte, wie zwei von ihnen eine Steinplatte ergriffen und sie vor die Öffnung wuchteten, um den Eingang von innen zu verschließen.
    Glücklicherweise trugen einige der Männer Fackeln, und so konnte ich erkennen, dass wir uns in einem unterirdischen Stollen befanden, der mit Holzbohlen befestigt war. Während wir voraneilten, glitten die flackernden Lichter über lehmige Wände, aus denen Baumwurzeln ragten. Nach einiger Zeit begann der Stollen sich zu verbreitern und stetig aufwärtszuführen, bis eine rechteckige Türöffnung in Sicht kam.
    Als wir den Ausstieg durchquerten und frische Nachtluft auf unseren Gesichtern spürten, blieb ich vor Staunen stehen – was zur Folge hatte, dass mein Hintermann mit mir zusammenstieß und mich grob aus dem Weg drängte. Der Anblick war überwältigend: Der Schacht öffnete sich unmittelbar zum Innenhof der Vorburg. Im Süden und Osten erhoben sich die gewaltigen Wälle mit ihren hölzernen Türmen und Wehrgängen. Im Norden, gleich zur Linken neben uns, ragte die Hauptburg empor, hoch an den Steilhang geschmiegt.
    Der gesamte Hof war von Menschen erfüllt, die dicht gedrängt am Boden saßen und von unserer Ankunft kaum Notiz nahmen. Ich erblickte zahllose Lagerfeuer, Männer in Waffen, Familien mit Kindern,

Weitere Kostenlose Bücher