Die Tränen der Vila
Mann, der mich geführt hatte, folgte ihnen hinaus.
Niklot, der Fürst der Wenden, erhob sich von seinem Stuhl und trat von dem Podest herab auf ebenen Boden. Bei seinem Anblick ahnte ich sogleich, warum er zum Anführer seines Volkes aufgestiegen war, obwohl er keiner dynastischen Linie entstammte. Seine bloße Erscheinung vermittelte ein spürbares Gefühl von Kraft und Entschlossenheit. Ich schätzte ihn auf etwa fünfzig Jahre, doch er wirkte so spannkräftig und stark wie ein viel jüngerer Mann. Sein Gesicht war länglich und von eindrucksvollen Proportionen, mit sehr ausgeprägtem Kinn und ebensolcher Stirn. Er trug ein schlichtes wollenes Gewand von bescheidener Qualität, jedoch einen kunstvoll beschlagenen Ledergürtel und ein Langschwert, dessen Scheide mit Bernsteinen besetzt war.
Zum Zeichen meines guten Willens wollte ich eine Demutsgeste anbringen, zögerte jedoch, da ich die entsprechenden Gepflogenheiten der Wenden nicht kannte. Schließlich entschied ich mich für eine schlichte Verbeugung. Zu meinem Erstaunen neigte auch der Fürst den Kopf. Zwar war ich ein Gefangener, doch ich nahm an, dass das wendische Gastrecht diese Höflichkeit verlangte.
„Komm näher!“, sagte er mit tiefer Stimme.
Ich trat zwei Schritte heran und stand schließlich so dicht vor ihm, dass uns kaum eine Armeslänge trennte.
„Man sagte mir, dass du unsere Sprache sprichst.“
„Ein wenig, Herr“, antwortete ich schüchtern.
Er forschte in meinem Gesicht, wobei der Blick seiner schmalen Augen rasch hin und her schoss. Offenbar gehörte er zu jenen Menschen, die Wesensart und Vertrauenswürdigkeit ihres Gegenübers in kürzester Zeit einzuschätzen vermochten. Als er weitersprach, wandte er den Blick von mir und begann, langsam im Raum auf und ab zu schreiten.
„Das Mädchen namens Svetlana, das gemeinsam mit dir und deinem Herrn aufgegriffen wurde, hat mir eine seltsame Geschichte erzählt. Demnach wurdet ihr vom Herzog ausgesandt, um unsere Dörfer zu plündern – und gerietet an jenes Dorf, in dem die Familie des Mädchens lebte. Ihr verübtet all jene Schändlichkeiten, welche die Diener des Christengottes üblicherweise begehen. Einzig Svetlana entkam, floh in die Wälder und nahm blutige Rache.“
„Das ist wahr“, bestätigte ich.
„Soweit ist die Geschichte höchst ungewöhnlich, doch noch immer glaubhaft“, fuhr Niklot fort, „auch wenn ich noch niemals solchen Mut und solche Kraft bei einem Bauernmädchen erlebt habe. Wenn alles wahr ist, wäre sie würdig, ein Dutzend meiner besten Krieger zu vertreten. Ein außergewöhnliches Mädchen …“
„Ja, das ist sie“, sagte ich ernst.
„Nun aber kommt der noch seltsamere Teil eurer Geschichte“, sagte Niklot. „Sie lockte euch in eine Falle, verschonte aber euer Leben …“ Er hielt inne, um mich anzusehen. „… und verfiel in Liebe zu dir.“
„Und ich zu ihr“, ergänzte ich wahrheitsgemäß.
„Wie kann das sein? Du gehörst zu den Mördern ihrer Eltern.“
„Nein, ich habe an keinen der Menschen im Dorf Hand gelegt“, stellte ich klar. „Freilich griff ich auch nicht ein. Ich fühlte nur, dass es abscheulich war, was die anderen taten, und als Lana floh, gab ich ihr den Weg frei.“
Niklot setzte seinen bedächtigen Rundgang fort.
„Und du?“, fragte er. „Was zog dich zu ihr? Bist du nicht ein sächsischer Jungedler? Und sagt man nicht bei euch, wir Obodriten seien wie Tiere? Hunde und Nachkommen von Hunden? Wilde, die man entweder bekehren oder erschlagen müsse?“
„Man sagt derlei Dinge“, gestand ich. „Doch ich weiß, dass sie nicht wahr sind. Gewiss sagen manche Eurer Gefolgsleute Ähnliches über uns Sachsen.“
Über Niklots strenges Gesicht flog ein schwaches Lächeln. „Das stimmt.“
Wir schwiegen eine Weile, und er fuhr fort, mich mit bedächtigen Schritten zu umkreisen. „Wie weit geht deine Liebe?“, fragte er schließlich.
„Wie meint Ihr das, Herr?“
„Angenommen, ich böte dir einen Weg, mit Svetlana vereint zu werden. Angenommen, du könntest in meinem Land friedlich und in Ehren mit ihr leben. Welchen Preis würdest du dafür zahlen?“
Ich schwieg beklommen. Einerseits war die Aussicht, die er mir eröffnete, nichts weniger als die Erfüllung meiner sehnlichsten Wünsche – andererseits spürte ich den drohenden Unterton.
„Welchen Preis würdet Ihr denn verlangen, Herr?“, gab ich die Frage zurück, um mir Zeit zu verschaffen.
„Natürlich müsstest du dich von deinem Ritter,
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