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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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unser Fürst, will euch nicht freilassen. Ich habe ihn angefleht, aber er sagt, ihr seid nun einmal feindliche Ritter.“ Sie seufzte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
    „Weine nicht!“, bat ich, denn ihre Trauer erfüllte mich mit einer drängenden Zärtlichkeit, die ich unter den gegebenen Umständen nicht befriedigen konnte. „Die Hauptsache ist, dass du frei und in Sicherheit bist.“
    Sie wischte sich wie ein Kind mit dem Ärmel das Gesicht. „Ich hole dich hier heraus“, flüsterte sie. „Ich weiß noch nicht, wie, aber ich werde mir etwas einfallen lassen.“
    Sie blickte sich rasch um, offenbar um sicherzugehen, dass wir nicht beobachtet wurden. Dann zog sie einen Apfel aus den Falten ihres Kleids und reichte ihn mir herab.
    „Der Wachmann wird gleich zurückkommen“, sagte sie. „Ich habe gewartet, bis er fort war. Niklot hat mir verboten, euch zu besuchen – aber ich werde wiederkommen, wann immer ich kann.“
    Im Überschwang meiner Gefühle zog ich mich mit beiden Armen hoch, so dass meine Füße in der Luft hingen, und drückte das Gesicht in die Öffnung zwischen den Gitterstäben. Lana beugte sich zu mir herab, und ihr Kuss durchschauerte mich, trotz des Zitterns meiner verkrampften Arme, mit glühender Hitze.
    Dann kündeten Schritte von der Rückkehr des Wachpostens, und Lana huschte davon. Ich ließ mich fallen, landete auf dem Boden – und erschrak, als ich hörte, wie der Riegel an der Zugangsluke aufgeschoben wurde. Hatte man den verbotenen Besuch bemerkt? Drohte mir umgehende Strafe, oder ging man gar so weit, Lana zu uns in den Kerker zu werfen?
    „Wer ist der Gefangene, der unsere Sprache spricht?“, rief ein wendischer Krieger zu uns hinab.
    Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass nur ich gemeint sein konnte.
    „Herauf mit dir!“, rief der Mann, öffnete die Klappe und streckte einen Arm herab. „Unser Fürst will dich sprechen!“
    Ich wechselte einen erstaunten Blick mit meinem Herrn.
    „Nun komm schon!“, drängte der Mann an der Einstiegsluke, und so blieb mir nichts anderes übrig, als seine Hand zu ergreifen und mich hinaufziehen zu lassen.
    „Vorwärts!“, befahl der Wende, als ich im Freien stand, schloss die Luke und drängte mich mit vorgehaltenem Dolch auf den Burghof hinaus. Ich blinzelte in der ungewohnten Helligkeit und suchte mit einem raschen Rundblick nach Lana, sah jedoch nur die zahllosen wendischen Bauern, die ihren Tagesgeschäften nachgingen.
    Der Krieger lenkte mich zum Tor der Hauptburg, das über eine ansteigende Rampe zugänglich war. Zwei Wachposten standen auf der Brustwehr über den offenen Torflügeln, nahmen jedoch keine Notiz von uns, als wir hindurchschritten und den Innenhof betraten. Staunend blickte ich mich um und erkannte mehrere große Holzhäuser, Wirtschaftsgebäude und Ställe, die sich an den Steilhang schmiegten. Rechts hinter dem Tor lag ein niedriges Gebäude, bei dem es sich um einen Tempel handeln musste. Während wir vorbeigingen, sah ich einen graubärtigen Mann aus dem Eingang treten und konnte hinter ihm im Halbdunkel ein brennendes Feuer und die hölzerne Statue eines dreiköpfigen Götzen erkennen.
    Mein Begleiter führte mich am Tempel vorbei zu einem Gebäude, über dessen Eingang ein blanker Rinderschädel thronte. Wir betraten eine geräumige Halle. Der größte Teil des Raums war leer, was mich vermuten ließ, dass er gewöhnlich für Versammlungen benutzt wurde. Ein kunstvoll gewebter Teppich führte zu einem erhöhten Podest am hinteren Ende der Halle, wo ein geschnitzter Stuhl stand, über dessen Lehne ein prächtiges rotes Tuch gebreitet war. Auf dem Stuhl saß ein Mann, umgeben von bewaffneten Gefolgsleuten, einer schwarzhaarigen Frau und mehreren Kindern. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, da die Umstehenden ihn verdeckten.
    Erst als mein Begleiter mich zum Nähertreten nötigte, löste sich die Gruppe auf, so dass ich dem Fürsten der Wenden von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Zu meinem Erstaunen hielt er ein Kind im Schoß, das vielleicht ein Jahr alt sein mochte. Er musterte mich einen Augenblick, dann reichte er das Kind der schwarzhaarigen Frau.
    „Lasst uns allein“, befahl er. „Pribislav, Wartislav – ihr könnt bleiben.“
    Frau und Kinder zogen sich durch eine Seitentür in ein angrenzendes Gemach zurück. Lediglich die beiden erwachsenen Söhne blieben neben dem geschnitzten Stuhl stehen. Die Bewaffneten verließen die Halle durch den Haupteingang, und auch der

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