Die Tränen der Vila
Frauen, die Säuglinge an der Brust hielten, Fässer und Säcke mit Vorräten sowie eilig gezimmerte Verschläge für das Vieh. Der Masse nach zu schließen, mussten hier die Einwohner Dutzender Dörfer aus der Umgebung zusammengeströmt sein. In der Mitte des Hofs erhob sich ein Mauerring, der offenbar zu einem Brunnenschacht gehörte.
Während ich mich staunend umblickte, sammelte sich die Ausfalltruppe um den dunkelhaarigen jungen Mann, der offenbar ihr Anführer war.
„Verluste?“, fragte er auf Wendisch.
„Etwa zwanzig, Herr“, antwortete einer der Krieger, der eben seinen geborstenen Schild absetzte.
Der Anführer nickte. „Gefangene?“
„Hier, Herr!“, antwortete ein zweiter und wies auf einige Dänen, die sämtlich verwundet und auf der Flucht mitgeschleift worden waren. Unter ihnen befand sich auch Erik, der sich trotz zahlreicher Hiebverletzungen verbissen wehrte und von mehreren wendischen Kriegern festgehalten werden musste.
„Und drei befreite Gefangene“, stellte der junge Mann fest und trat zu Lana, Hartmann und mir herüber, wobei er die Axt in seinen Gürtel steckte.
„Woher kommst du, Mädchen?“, wandte er sich an Lana.
„Aus einem Dorf, etwa sieben Meilen östlich vom Seeufer“, antwortete sie. „Meine Leute hatten sich in die Wälder zurückgezogen, aber dann erschienen plötzlich die Dänen und nahmen uns gefangen … mich und diese beiden Männer hier, die meine Freunde sind.“
Sie wies auf Hartmann und mich, und der junge Krieger musterte uns erstaunt.
„Ihr seid nicht wie Bauern gekleidet“, bemerkte er. „Wer seid ihr?“
„Was sagt er?“, flüsterte Hartmann mir zu.
Die Augen des jungen Kriegers verengten sich misstrauisch; offenbar erkannte er die deutsche Sprache zumindest am Klang. Dann streckte er eine Hand aus, packte Hartmann an der Schulter und entdeckte das aufgenähte weiße Kreuz.
„Sjostjes“, sagte er scharf. Die umstehenden Krieger raunten und flüsterten bei diesem Wort, und einige erhoben ihre Waffen.
„Halt!“, rief Lana, drängte sich an meine Seite und ergriff meine Hand. „Tut ihnen nichts an! Sie sind meine Freunde!“
Der junge Krieger blickte erstaunt auf Lana, dann, weit weniger wohlwollend, auf mich.
„Wer bist du, Junge?“, fragte er in ungelenkem Deutsch.
„Mein Name ist Odo“, antwortete ich – zweifellos zu seinem Erstaunen – in fließendem Wendisch. „Ich bin der Knappe dieses sächsischen Ritters. Sein Name ist Hartmann von Aslingen.“
„Dann höre, Sjostje“, sagte der junge Krieger streng. „Ich bin Pribislav, Sohn Niklots von Viligard, des Fürsten der Obodriten. Du befindest dich in den Händen deiner Feinde, die dem Herzog und seinen Gefolgsleuten den Tod geschworen haben.“ Erneut wandte er sich an Lana. „Wie kannst du behaupten, dieser Mann sei dein Freund?“
Lana erwiderte furchtlos seinen Blick, ohne meine Hand loszulassen. „Ich liebe ihn“, sagte sie schlicht.
Wieder tuschelten die Männer im Hintergrund, während mir bei diesen Worten ein warmer Schauer über den Rücken lief.
„Wie geht das an?“, fragte Pribislav empört.
„Das ist eine lange Geschichte“, erwiderte Lana.
„Dann sollst du sie meinem Vater erzählen“, beschied Pribislav. „Vielleicht will er sie hören, bevor er sein Urteil über diese beiden Männer spricht.“ Er packte Lana am Ärmel und zog sie von meiner Seite.
„Und was tun wir mit den beiden Sachsen?“, fragte einer der Krieger, als ihr Anführer sich zum Gehen wandte.
„Werft sie zu den anderen Gefangenen ins Verlies“, befahl Pribislav.
Und während er mit Lana zum offenen Tor der Hauptburg ging, ergriffen die Krieger Hartmann und mich sowie die dänischen Gefangenen und schleiften uns quer über den Hof. Man brachte uns bis zu einer Stelle nahe dem Wall, wo eine rechteckige Erdgrube ausgehoben war, etwa eine Mannslänge tief und von einem Gitter aus Holzbalken bedeckt. In der Mitte dieses Gitters befand sich eine Klappe, die mit einem eisernen Riegel verschlossen war. Die Männer öffneten den Einstieg und nötigten uns Gefangene mit vorgehaltenen Waffen zum Hinabklettern. Glücklicherweise gestattete man mir, Hartmann zu helfen, der durch sein steifes Bein behindert war. Als wir alle wohlbehalten auf dem Boden der Grube angekommen waren, wurde die Klappe geschlossen.
Im schwachen Licht, das von den oberirdischen Lagerfeuern herabdrang, konnten wir die Einzelheiten unseres Gefängnisses nur vage erkennen. In einer Ecke auf dem gestampften
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