Die Tränen der Vila
nieder.
„Da du es vorziehst, ein Gefangener zu bleiben“, sagte er streng, „wirst du mir als Geisel dienen. Bisher hatten wir nur Gefangene minderen Ranges, auf die dein Herzog keinen Wert legt. Nun aber haben wir zwei Edle – dich und deinen Herrn –, und wie dein Mädchen mir arglos verriet, steht ihr beide in der besonderen Gunst des Grafen von Holstein. Ich werde Unterhändler schicken und dem Herzog anbieten, euch unversehrt auszuliefern, wenn er mit seinem Heer abzieht. Du wirst mitgehen, zum Beweis, dass ich euch in meiner Gewalt habe.“
Ich schluckte. „Und wenn der Herzog Euer Angebot ablehnt?“
„Dann ist es an der Zeit, unseren Göttern ein Opfer darzubringen“, sagte Niklot. „Sie lieben Christenblut.“
Er winkte seinem Sohn Pribislav, der die ganze Zeit über still hinter dem Stuhl verharrt hatte. „Bring ihn zurück ins Verlies.“
Wie die Verhandlungen scheiterten
Ich wurde zurück in die unterirdische Grube gebracht, und man schloss die Falltür über mir. Sofort bestürmte mich Hartmann mit Fragen, und auch die beiden sächsischen Gefangenen lauschten neugierig. Ich gab das Geschehene in stark verkürzter Form wieder und sagte nur, dass ich Niklots Angebot zurückgewiesen hatte, ihm die Dienste eines Spions zu leisten – seinen Auftrag, Hartmann zu ermorden, unterschlug ich.
„Er will also mit dem Herzog verhandeln.“ Mein Herr strich sich nachdenklich den Bart, als ich meine Erzählung beendet hatte. „Das ist ein gutes Zeichen, denn es bedeutet, dass seine Entschlossenheit wankt. Wahrscheinlich ist ihm klar, dass er die Burg nicht mehr lange halten kann.“
„Aber wird Herzog Heinrich Zugeständnisse machen, nur um das Leben einiger Gefangener zu retten?“, fragte ich.
„Wohl kaum“, mischte sich Walfried in unser Gespräch. „Niklot wird uns alle töten lassen.“
„Das glaube ich nicht“, beschwichtigte Hartmann. „Niklot wird es sich gut überlegen, ob er den Herzog gegen sich aufbringen will. Offenbar ist er ein kluger Kopf, und er weiß, dass er mit dem Rücken zur Wand steht. Wenn es zu Verhandlungen kommt, wird Herzog Heinrich vielleicht eine Lösung vorschlagen, die es Niklot erlaubt, sein Gesicht zu wahren.“
Dies beruhigte mich ein wenig, denn Hartmanns Ausführungen klangen vernünftig. Vielleicht hatte er recht, und es kam am Ende zu einer gütlichen Einigung.
Der Tag verstrich, der Abend kam, und wir legten uns zur Ruhe. Weitere fünf- oder sechsmal stieg die Sonne draußen über der Tagwelt auf und warf glühende Lichtquadrate durch das Gitter auf den Boden unseres Gefängnisses. Tatsächlich vermag ich nicht sicher zu sagen, wie viele Tage vergingen, denn die Eintönigkeit unseres Daseins zerdehnte mir die Zeit zur Ewigkeit. Morgens und abends schüttete man uns Wasser und Nahrungsmittel herab, und wir aßen, tranken und blieben bei leidlicher Gesundheit. Den Gestank unseres Verlieses – der daher rührte, dass wir unsere körperlichen Bedürfnisse an Ort und Stelle verrichten mussten – nahmen wir nicht mehr wahr, ebenso wenig die Härte des Bodens oder das Zwielicht, an das unsere Augen sich gewöhnt hatten.
Glücklicherweise wirkte die erzwungene Untätigkeit mäßigend auf unsere Mitgefangenen. Die Dänen hatten sich auf ihre Seite der Grube zurückgezogen und dösten die meiste Zeit. Selbst Erik saß teilnahmslos in einer Ecke und starrte vor sich hin – nur wenn sein Blick auf mich fiel, blitzten seine Augen feindselig.
Mindestens zweimal am Tag kam Lana zu mir. Sie hatte sich einer wendischen Bauernfamilie angeschlossen, weniger aus Zuneigung, sondern weil deren Lagerplatz nicht weit vom Verlies entfernt lag. Gewöhnlich saß eine bewaffnete Wache am Rand der Grube, doch Lana passte die Zeiten ab, zu denen der Mann fortging, um die Ablösung zu rufen oder sich Verpflegung zu holen. Stets brachte sie etwas Essbares mit, mal einen Bissen Fleisch, mal eine Mohrrübe oder ein Schälchen mit Brei, das wir ihr beim nächsten Besuch geleert wieder hinaufreichten. Wie sie uns berichtete, war die Versorgungslage in der Burg zwar knapp, doch noch nicht kritisch.
Das Geheimnis des Nachschubs hatte sie inzwischen durch Gespräche mit ihren Lagernachbarn aufgeklärt: Der unterirdische Gang nämlich, durch den wir in die Burg gelangt waren, diente den Wenden nicht nur für überraschende Ausfälle, sondern auch zum Heranschaffen von Nahrungsmitteln. Seine getarnte Öffnung lag direkt an der Steilküste, also außer Sichtweite sowohl des
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