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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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mich bindet. Ich liebe meine Heimat, und ich liebe auch meinen Herrn – so wie ein Kind Mutter und Vater liebt, selbst wenn sie ihm keine guten Eltern waren. Wenn man etwas liebt, fragt man nicht, ob es der Liebe wert ist.“
    Niklot blieb stehen und sah mir scharf ins Gesicht. „Ein kluges Wort“, sagte er mit widerwilliger Anerkennung. „Und es würde mich für dich einnehmen – wenn ich nicht wüsste, dass ihr Christen das Wort ‚Liebe’ allzu leichtfertig im Munde führt. Ihr seid Heuchler, und ich traue euch nicht. Was wisst ihr von Liebe? Stimmt es etwa nicht, dass eure Priester weder Weib noch Kind haben?“
    Ich nickte.
    „Und ist nicht deine Liebe zu Svetlana in den Augen deines Gottes eine schwere Schuld?“
    „Ich … weiß es nicht“, gestand ich.
    Niklot lachte trocken. „Du weißt es nicht. Du weißt nicht, ob es eine Sünde ist, wenn ein junger Mann ein junges Mädchen liebt. Doch glaube mir, eure Priester wissen es genau: Du wirst einige hundert Gebete aufsagen und dich von Wein und Fleisch enthalten müssen, wenn du Vergebung erlangen willst.“
    Ich schwieg verlegen, denn ich wusste, dass er recht hatte.
    „Das ist die Art der Christen“, sagte Niklot finster. „Also rede mir nicht von Liebe, Sjostje! Ich kenne eure Art von Liebe. Schon vor zweihundert Jahren brachte einer eurer Könige uns die Liebe eures Gottes, indem er unser Land verheerte, unsere Siedlungen brandschatzte und meine Vorfahren in einer großen Schlacht schlug. Ihren Anführer ließ er enthaupten und seinen Kopf auf eine Lanze spießen. Alle Gefangenen, mehrere hundert an der Zahl, ließ er in einer Reihe antreten und enthaupten. Mit ihm kamen eure Priester, um das Wort des Christus zu verbreiten, und es kamen auch die Steuereintreiber, um Tribute von uns zu erpressen. Das nannte man ‚die Frohe Botschaft’ und ‚die Liebe Gottes’.“ Er begann, immer schneller im Raum umherzugehen. „Und dann kam euer König Lothar. Auch er überzog uns mit Krieg, schleifte unsere Dörfer und brannte die Tempel unserer Götter nieder. Und als er die Lust daran verlor und in seine Heimat zurückkehrte, gab er mein Land einem dänischen Prinzen zu Lehen – für eine stattliche Geldsumme. Er verkaufte mich und mein Volk. Das ist die Liebe der Christen. Zum Glück fügten die Götter, dass jener Däne ermordet wurde.“ Er hielt inne und starrte mich mit düster funkelnden Augen an. „Und nun kommt ihr erneut, Sachsen und Dänen gemeinsam. Das Wort Gottes wollt ihr uns bringen. Kann es etwas anderes bedeuten als Raub, Mord und Tributpflicht? Hat es je etwas anderes bedeutet? Ich hasse euren Christus. Angeblich starb er, an zwei überkreuzte Balken genagelt, einen qualvollen Tod. Wahrscheinlich ist er als rachsüchtiges Gespenst zurückgekehrt und stachelt euch auf, seinen Gegnern ein ebenso qualvolles Ende zu bereiten. Sprach er nicht: Gehet hin und lehret alle Völker? O ja, er hat uns das Fürchten gelehrt, das Schaudern vor seiner Grausamkeit, den Abscheu vor seiner Falschheit. Er ist ein böser Geist, der die Herzen verdirbt. Ich verfluche ihn.“ Schwer atmend wandte er sich ab.
    Noch wenige Wochen zuvor hätte ich aufbegehrt, seine Lästerung getadelt, ihm gesagt, dass er mit diesem Fluch eine Todsünde beging. Doch seltsamerweise fand ich keine Empörung in meinem Herzen, nur Hilflosigkeit und sogar eine Regung des Mitgefühls. Dieser Mann war kein grausamer Heide, sondern ein Verzweifelter: bedrängt von der Verantwortung, sein Volk gegen eine Übermacht zu schützen; Tod und Vernichtung erwartend, wenn er standhaft blieb – und schmähliche Knechtschaft fürchtend, wenn er aufgab.
    „Ich bedaure das Leiden Eures Volkes“, sagte ich aufrichtig. „Und ich verhehle Euch nicht, dass ich Zweifel an den Absichten meiner Fürsten, ja, zuweilen sogar an meinem Gott habe. Dennoch kann ich nicht zum Mörder und Verräter werden. Die Liebe hindert mich. Ich kann nicht verletzen, was mir teuer ist, und nicht zerstören, woran ich hänge, sei es gut oder schlecht.“
    Niklot betrachtete mich nachdenklich. „Du bist ein Träumer, Sjostje … und wahrscheinlich ein besserer Mensch als jene Christen, die in Waffen vor meinen Toren lagern. Ich bedaure, dich nicht für meine Seite gewinnen zu können – doch es sei, wie du willst. Dann wirst du mir eben auf andere Weise nützlich sein.“
    „Wie meint Ihr das?“, fragte ich beunruhigt.
    Niklot wandte sich ab, erstieg wieder das Podest und ließ sich auf seinem geschnitzten Stuhl

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