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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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und schenkte mir einen flüchtigen Kuss. Dann verschwand sie im Schatten jenseits des Grubenrands.
    Tatsächlich näherten sich Schritte, doch es war nicht der Wachposten; stattdessen erschien eine ganze Gruppe von Männern am Rand der Grube. Einer von ihnen löste den Riegel der Falltür und öffnete die Klappe.
    „Komm herauf, Junge!“
    Ich erkannte Pribislav, den ältesten Sohn Niklots.
    Von seinem Ruf erwachten meine Mitgefangenen, und Hartmann, der den Anlass des Besuchs zu ahnen schien, blinzelte mir zu.
    „Endlich!“, flüsterte er. „Die Verhandlungen müssen anberaumt worden sein. Viel Glück, Odo!“
    Diesmal wurde eine Leiter herabgelassen, an der ich hinaufklettern konnte, und so stand ich nach wenigen Augenblicken im Freien und blinzelte in die Morgensonne. Vor mir stand Pribislav, gekleidet in einen prächtigen Leibrock mit gestreiften Beinlingen und gegürtetem Schwert. Er wurde von fünf wendischen Kriegern begleitet. Einer von ihnen zückte ein Seil und fesselte mir die Hände auf dem Rücken.
    „Es ist so weit“, sagte Pribislav. „Wir treffen jetzt mit deinem Herzog zusammen. Du wirst mitgehen und dich ihm zeigen – aber du wirst kein Wort sprechen, wenn ich dich nicht dazu auffordere, verstanden?“
    Ich bejahte stumm.
    „Wenn du sprechen musst, wirst du ausschließlich unsere Sprache gebrauchen. Sobald du etwas auf Sächsisch sagst, werden wir dir den vorlauten Mund einschlagen.“
    Ich nickte eingeschüchtert. Offenbar fürchtete Pribislav, der kaum Deutsch verstand, ich könnte seinen Feinden gefährliche Informationen zukommen lassen – zum Beispiel über den unterirdischen Gang, der in die Burg führte.
    Die Krieger nahmen mich in die Mitte und strebten, geführt von Pribislav, auf das Burgtor zu. Auf sein Zeichen erhoben sich die Torwachen von ihren Plätzen und begannen, die schweren Riegel aus Eichenstämmen hochzuwuchten. Gleichzeitig nahm eine Truppe von Bewaffneten auf dem Wehrgang Aufstellung, um die Lage draußen zu überblicken. Das schwere Tor knirschte in den Angeln. Kaum standen wir draußen auf dem Dammweg, als es hinter uns wieder zugeschoben wurde.
    Ich blickte nach vorn und erkannte die Ebene südlich des Burgwalls. Vor uns lagen hundert Schritte Niemandsland, dahinter der Graben mit der äußeren Palisade. Jenseits der Holzbrücke hatte sich eine Abordnung des sächsischen Heeres aufgestellt: rund ein Dutzend Männer, alle zu Fuß, unter ihnen ein Bannerträger mit der Standarte des Kreuzes.
    „Vorwärts!“, befahl Pribislav, winkte seinen Männern und schritt den Dammweg hinunter. Die Krieger umringten mich, so dass mein Blick auf die Wartenden hinter der Brücke zunächst verstellt war. Erst beim Näherkommen erkannte ich Herzog Heinrich, im purpurnen Mantel mit pelzbesetztem Schultertuch. Zu seiner Rechten stand Konrad von Zähringen, zur Linken Graf Adolf, flankiert von Graf Poppo und Gunzelin von Hagen. Der Erzbischof von Bremen saß in vollem Ornat auf einem hölzernen Schemel, die Bischofsmütze im Schoß, während ein Priester seinen kahlen Schädel mit einem Sonnenschirm beschattete. Die Männer sahen aus, wie ich sie in Erinnerung hatte, allerdings gezeichnet von den Strapazen der wochenlangen Belagerung: Die Prachtkleider waren angegraut und nicht mehr sauber; selbst der Herzog wirkte hohlwangig, als habe er lange Zeit kein standesgemäßes Mahl genossen, und der Erzbischof sah kränklicher und schwächer aus denn je.
    Wir überquerten die Brücke, und Pribislav blieb wenige Schritte vor Herzog Heinrich stehen.
    „Mein Vater, der Fürst der Obodriten, dankt Euch für Eure Bereitschaft zu diesem Treffen“, sagte er.
    Heinrich verzog unmutig die Lippen. „Kann der Mensch nicht so höflich sein, unsere Sprache zu gebrauchen?“, wandte er sich ungehalten an Graf Adolf.
    „Das muss Pribislav sein“, sagte der Graf, „der älteste Sohn Niklots. Sicher spricht er kein Deutsch. Ich werde als Dolmetscher dienen, wenn Ihr erlaubt.“ Er wandte sich an den Unterhändler und fragte auf Wendisch: „Seid Ihr Pribislav?“
    „Das bin ich“, versetzte der Angesprochene.
    „Ich bin Adolf, Graf von Holstein und Stormarn. Ich habe schon viel von Euch gehört – und Ihr sicher auch von mir, denn einst, in glücklicheren Tagen, war ich ein Freund Eures Vaters.“
    „Das wart Ihr.“ Pribislav nickte finster. „Bevor Ihr ihm den Bund aufgekündigt habt und in sein Land eingefallen seid.“
    „Der Herzog verlangte meinen Lehnsdienst, und die heilige Kirche den

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