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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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denn es ist Neumond, und die Nacht wird dunkel. Der Mann, der nachts die Grube bewacht, trinkt eine Menge Met. Ich werde das Pulver in seinen Becher mischen, sobald sich eine Gelegenheit ergibt. Er wird Schmerzen bekommen und sich entleeren müssen, was gewiss eine Weile dauert. Sobald er fort ist, öffne ich die Klappe; du kletterst herauf, und wir fliehen zur anderen Seite des Hofs und durch den unterirdischen Tunnel.“
    „Was wird aus den anderen?“, fragte ich und warf einen Blick auf meine Kerkergenossen. Walfried und Humbert starrten verstohlen zu uns hoch; wahrscheinlich fragten sie sich nach dem Sinn dieses ausführlichen Gesprächs. Natürlich verstanden sie kein Wort, da Lana und ich uns der wendischen Sprache bedienten. Die Dänen auf der anderen Seite des Verlieses wirkten teilnahmslos bis auf Erik, der mich argwöhnisch beobachtete.
    „Vergiss die anderen!“, flüsterte Lana. „Wir können uns um sie nicht kümmern, und sie dürfen auch nichts von unserem Plan erfahren. Sie würden sonst alle gemeinsam heraufdrängen, wahrscheinlich einigen Lärm dabei machen und die Wachen alarmieren. Wir müssen es heimlich tun, am besten, während sie schlafen. Ich werde die Klappe so leise wie möglich öffnen, und du musst versuchen, schnell hinaufzuklettern, ohne dass sie erwachen.“
    „Aber sobald ich frei bin, muss ich erst einmal versuchen, Hartmann zu retten“, sagte ich. „Kannst du ein Messer besorgen, damit ich ihn losschneiden kann?“
    Lana verzog die Lippen. „Ich kann es versuchen. Aber denk daran: Wenn sich herausstellt, dass du nichts für ihn tun kannst, dann musst du ihn seinem Schicksal überlassen. Ich werde nicht dulden, dass du dich für ihn umbringen lässt, und ich werde dich auch nicht begleiten. Komm zu mir zurück, so schnell du kannst – mit ihm oder ohne ihn; das ist mir gleichgültig. Falls etwas schiefgeht, musst du dich entscheiden, ob du mir folgen oder bei ihm bleiben willst!“ Sie legte einen Finger unter mein Kinn und hob meinen Kopf, so dass ich ihr in die Augen sehen musste. „Willst du um seinetwillen sterben – oder willst du mit mir leben?“
    Ich blickte sie an, und der Gedanke an Hartmann zerschmolz in mir. Ihr Gesicht war nicht mehr steinern; es war das Gesicht des Mädchens, das ich liebte. Ihre großen dunklen Augen glühten, und ich musste an tiefe Brunnenschächte denken, auf deren Boden Feuer brannte. Dies war mein Mädchen, und ich konnte, wenn ich nur wollte, gemeinsam mit ihr fliehen und irgendwo an einem fernen Ort mit ihr zusammen sein.
    „Ja, ich will mit dir leben“, antwortete ich endlich. „Wenn du es auch willst.“
    Sie neigte sich herab und küsste mich mit derartiger Entschlossenheit, dass ich weich in den Knien wurde und fast meinen Halt an der Wand verloren hätte. Der Kuss dauerte, bis Schritte sich näherten – ich hätte es kaum wahrgenommen, doch Lana war auf der Hut, machte sich augenblicklich los und entschwand lautlos wie ein Schatten. Der Schreck ließ mich endgültig den Halt verlieren, und ich rutschte an der Wand hinab und prallte unsanft auf den Boden des Verlieses. Für einen Moment erschien das Gesicht des Wachpostens über dem Gitter. Offenbar suchte er nach der Ursache des Geräuschs, fand jedoch nichts Verdächtiges und warf schließlich das Abendessen zu uns herab – die übliche Portion Wasser und Schlachtabfälle.
    Ich war froh, dass meine Mitgefangenen mit dem Essen beschäftigt waren, denn ich durfte auf keinen Fall den Anschein erwecken, dass etwas Ungewöhnliches bevorstand. So verzehrte ich stumm eine Mohrrübe, während Humbert und Walfried mich mit verhohlener Neugier musterten. Gewiss wunderten sich die beiden schon seit langem über mein Verhältnis zu Lana, doch hatten sie mich nie danach gefragt und taten es auch jetzt nicht.
    Unterdessen brach der Abend herein, und wir legten uns zum Schlafen nieder. Eine Zeitlang beobachtete ich Erik, der bei Lanas Besuch sehr wachsam gewesen war und mich misstrauisch beobachtet hatte. Nun jedoch wirkte er teilnahmslos und schläfrig, wich meinem Blick aus und drehte das Gesicht zur Wand. Ich konnte nur hoffen, dass er unseren Plan nicht erraten hatte und tatsächlich schlief.

Von der Nacht der Entscheidung
    Die Nacht war dunkel. Wolken verdeckten den Mond. Es war fast unheimlich still, und nur selten regte sich auf dem Burghof ein Mensch, blökte ein Schaf oder schrie ein Säugling. Oben auf den Wehrgängen der Festung dösten die Wachen, auf ihre Speere

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