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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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Während ich noch damit beschäftigt war, meinen Fuß aus dem Gitter zu befreien, kletterte Walfried ins Freie, stürzte an mir vorbei und rannte Erik nach, der den Hof bereits zur Hälfte überquert hatte. Zugleich ertönten Flüche und Schläge unter mir, was mich erraten ließ, dass die verbliebenen Gefangenen miteinander um den Vortritt kämpften. Dies wiederum führte unweigerlich dazu, dass die ersten Wenden auf dem Hof erwachten und sich schlaftrunken nach der Quelle des Aufruhrs umsahen.
    Endlich kam ich von dem Gitter los, richtete mich auf – und wurde erneut zu Boden geschlagen, als einer der dänischen Gefangenen Walfried nachfolgte und mich glatt über den Haufen rannte. Erneut rappelte ich mich auf und rannte los, so schnell mich meine Beine trugen. Erik jedoch hatte einen erheblichen Vorsprung und erreichte bereits den Eingang des Tunnels, als ich noch weit hinter ihm war. Machtlos sah ich zu, wie er Lana hineindrängte und verschwand – ich musste mich beherrschen, um nicht laut ihren Namen zu rufen. Ihm folgte Walfried, der ohne Rücksicht auf die Schläfer am Boden über den Hof gehastet war, so dass er eine ganze Reihe von ihnen geweckt hatte. Immer mehr Menschen fuhren von ihren Schlaflagern hoch und rieben sich die Augen; dann ertönte der erste Alarmruf, und die Wachen auf dem Wall blickten erschrocken in den dunklen Hof hinab.
    Ich hatte den Hof eben zur Hälfte überquert, als ich die Rampe passierte, die zum offenen Tor der Hauptburg führte.
    Hartmann!
    Beim Anblick Eriks, der Lana mit sich fortschleifte, hatte ich ihn fast vergessen. Für die Dauer eines Herzschlags ergriff ein entsetzlicher Widerstreit der Gefühle von mir Besitz, lähmte meinen Willen und ließ mich innehalten. Was sollte ich tun? Erik entführte meine Geliebte vor meinen Augen – und dort drüben, keine dreißig Schritte hinter der Rampe, wartete mein väterlicher Freund auf eine qualvolle Hinrichtung im Morgengrauen.
    Ich hätte mir sagen können, dass Lana keine Todesgefahr drohte, da Erik sie lebend begehrte, während auf Hartmann das Messer des Opferpriesters wartete – oder aber, dass Hartmann erlitt, was er verdiente, während dem Mädchen, das ich liebte, Gewalt und Entehrung drohten. Doch kein vernünftiger Gedanke hätte mich in diesem Augenblick äußersten Zwiespalts erreichen können. Meine Glieder regten sich wie von selbst, meine Füße wandten sich, und ich folgte der Richtung, in die sie mich trugen.
    Im nächsten Moment lief ich die Rampe zur Hauptburg hinauf. Die Wachen auf dem Wehrgang sahen mich kommen, begriffen jedoch nicht sofort, was vor sich ging. Erst als ich das Tor durchquerte, packten sie ihre Speere und hasteten zu den Leitern.
    Ich gelangte auf den Hof, orientierte mich mit einem raschen Rundblick und erkannte den Pfahl, der vor dem Eingang des Tempels in die Erde gerammt war. Hartmann hing in unnatürlich verdrehter Stellung in seinen Fesseln, als ich auf ihn zulief.
    „Herr!“, rief ich. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich kein Messer hatte, um ihn loszuschneiden, und sah mich verzweifelt nach einem geeigneten Hilfsmittel um.
    „Odo?“ Hartmann blinzelte ungläubig. „Was machst du hier, Junge?“
    In meiner Not riss ich den Vorhang beiseite, der den Eingang des Tempels verdeckte, und stürzte in den dunklen Raum. In einer Ecke glommen die zerfallenen Reste eines Feuers. Im Zwielicht dahinter erhob sich die riesige Gestalt des dreiköpfigen Götterbildes. Ich suchte nach einem Messer, einem Schwert, einer zeremoniellen Klinge – und entdeckte endlich einen prächtigen geschwungenen Dolch auf dem Altartisch. Ohne Zögern ergriff ich die Waffe, hastete zurück auf den Hof und schnitt Hartmanns Fesseln durch. Seine Knie knickten ein, als die Seile sich lockerten; offenbar war er nicht in der Lage, sich auf den Beinen zu halten.
    Im selben Moment hatten die beiden Wachen den Hof erreicht, sprangen von den Leitern und rannten mit erhobenen Speeren auf uns zu.
    „Das war keine gute Idee“, sagte Hartmann schwach.
    „Haltet den Mund!“, zischte ich.
    Im schieren Übermaß der Verzweiflung ergriff eine gewaltige Kraft von mir Besitz, so dass ich den Dolch erhob und einem der Angreifer entgegenstürmte. Mit einer raschen Drehung wich ich der Spitze seines Speers aus, warf mich mit meinem ganzen Gewicht auf den Mann und riss ihn zu Boden. Er keuchte erschrocken, fiel auf den Rücken und verlor seine Waffe. Bevor er sich aufrappeln konnte, hatte ich mit der linken Hand den Speer

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