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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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gestützt.
    Der Wachposten neben der Grube hatte sich wie gewöhnlich ins Gras gesetzt und trank – ich erriet es nur an den gelegentlichen Geräuschen, wenn er die Lederflasche zur Hand nahm, um seinen Becher zu füllen. Ich lauschte auf jedes Geräusch, vor allem, wenn er sich erhob und seine Schritte verrieten, dass er die Position wechselte. Zweimal trat er zum Wall hinüber, um Wasser zu lassen, und beim dritten Mal wanderte er ohne ersichtlichen Grund im Kreis, vermutlich, um sich die Beine zu vertreten. Nichts aber deutete darauf hin, dass Lana bereits zur Ausführung ihres Plans gekommen war.
    Stunden verstrichen, und das Wachbleiben fiel mir zunehmend schwerer. Irgendwann döste ich ein, und als ein Geräusch mich hochschrecken ließ, ermaß ich an der empfindlichen Kühle der Luft, dass es lange nach Mitternacht sein musste. Besorgt suchte ich am Himmel über dem Gitter nach dem ersten Licht des Morgens – und war erleichtert, noch immer vollkommene Schwärze vorzufinden. Bei Tagesanbruch, hatte Pribislav gesagt, würde man Hartmann den wendischen Göttern opfern. Womöglich schliffen die Priester bereits ihre Messer.
    Unterdessen wiederholte sich das Geräusch, das mich geweckt hatte: ein Stöhnen, das nicht aus der Dunkelheit des Verlieses, sondern von oben jenseits der Grube kam. Der Wachposten erhob sich; ich hörte deutlich sein ledernes Wams knarren. Dann entfernten sich rasche Schritte. Offenbar lief er fort, um einen abgeschiedenen Platz zu suchen, wo er sich erleichtern konnte. Bange Momente verstrichen, und ich lauschte in die Nacht hinaus. Endlich knarrte das hölzerne Gitter über mir, und ich hörte, wie die Falltür entriegelt wurde.
    Die Klappe schwang auf, und ich erkannte einen hellen Schemen in der quadratischen Öffnung – ein Gesicht vor dem Nachthimmel.
    „Es ging nicht eher“, flüsterte Lana. „Komm schnell!“
    Ich erhob mich leise, um meine schlafenden Kerkergenossen nicht aufzustören, trat unter die Luke und ergriff ihre hölzerne Umrahmung, um mich hinaufzuziehen.
    Im selben Augenblick hörte ich ein Geräusch, spürte Bewegung hinter mir, fuhr herum – und blickte in das Gesicht Eriks, der aufgesprungen war und auf mich zuhastete. Ich war zu erschrocken, um mich mit einem raschen Klimmzug in die Freiheit zu retten, und erst recht zu erschrocken, um seiner erhobenen Faust auszuweichen. Im letzten Moment vollführte ich eine fahrige Abwehrbewegung, die jedoch nur bewirkte, dass sein Schlag mich am Kinn statt zwischen den Augen traf. Ich verlor den Halt und stürzte zurück auf den Boden des Verlieses.
    Es vergingen kaum drei Herzschläge, bis ich mich wieder hochgerappelt hatte – in derselben kurzen Zeitspanne jedoch hatte Erik erreicht, was er wollte: Meinen am Boden liegenden Körper als Trittbrett benutzend, packte er seinerseits den Rand der Luke und schwang sich mit einer Behendigkeit hinauf, die man einem Mann von seiner massigen Statur kaum zugetraut hätte. Als ich wieder auf den Füßen stand, verschwanden seine Beine eben über der Falltür; dann vernahm ich ein Geraschel und Gepolter, und ein Schrei ertönte.
    Ich erriet, was mein Widersacher im Sinn hatte. Keineswegs hatte er geschlafen, sondern unseren Plan erraten und mich im Dunkeln heimlich beobachtet – und nun floh er nicht nur an meiner statt, sondern hatte es zugleich auf Lana abgesehen. Die Erkenntnis verlieh mir verzweifelte Kräfte. Ohne Zögern nahm ich einen erneuten Anlauf, sprang hoch und schaffte es schließlich, den Oberkörper durch die Falltür nach draußen zu wuchten. Was ich sah, bestätigte meine schlimmste Befürchtung: Erik hatte Lana gepackt und hielt sie wie ein Bündel unter dem linken Arm, während er ihr mit der rechten Hand den Mund zudrückte. Zugleich schleifte er sie vorwärts – quer über den Hof und geradewegs auf den Eingang des unterirdischen Tunnels zu. Sie wehrte sich und strampelte mit Armen und Beinen, doch gegen Eriks Kräfte war sie machtlos.
    Eilig stemmte ich mich hoch, kam auf die Beine und wollte ihm nachsetzen. Doch in meinem Schrecken hatte ich vergessen, dass die Grube nur mit einem Gitter bedeckt war, und schon sank mein Fuß durch eine der Öffnungen. Ich stolperte, stürzte und verdrehte mir schmerzhaft das Bein.
    Inzwischen jedoch war es mit aller Heimlichkeit vorbei. Der Kampf, das Gepolter und Lanas unterdrückter Schrei hatten meine Mitgefangenen geweckt, die zu ihrem Erstaunen die Falltür offen fanden und rasch begriffen, was vor sich ging.

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