Die Tränen der Vila
Versorgung zurückbehalten konnten. Hartmann konnte weder lesen noch schreiben und meinte, er werde es auf seine alten Tage auch nicht mehr erlernen. So wanderte ich jahrelang an jedem freien Tag zum Kloster in Lüneburg, um mir von einem freundlichen jungen Mönch das Schreiben beibringen zu lassen. Der Erfolg dieser Bemühungen war größer als erwartet, denn es stellte sich heraus, dass ich – die Sünde des Hochmuts sei mir verziehen – ein besonderes Talent für den Umgang mit geschriebenen Zeichen besaß. Bald konnte ich nicht nur lesen, schreiben und rechnen, sondern begann, ganze Tage im Skriptorium des Klosters zu verbringen und Bücher zu lesen, die dort von den Mönchen kopiert und verwahrt wurden. So war ich bald Verwalter, Schreiber und Gelehrter in einer Person, und wenn die langen Winterabende kamen, saß ich oft mit Hartmann zusammen in der Herrenstube am Kamin und rezitierte, was ich gelesen und auswendig gelernt hatte – ganze Teile der Heiligen Schrift, aber auch Ritterlegenden und sogar Minnelieder, die damals gerade in Mode kamen.
Von den Geschehnissen in der Welt erfuhren wir wenig, denn zu jener Zeit verlegte Herzog Heinrich seinen Hofsitz von Lüneburg nach Brunsvik, und da mein Herr nicht mehr kriegsfähig war, blieben irgendwann auch die Einladungen zu den Hoftagen aus. Umso aufmerksamer lauschte ich auf Nachrichten, wenn ich nach Lüneburg ging, insbesondere auf Gerüchte von den jüngsten Geschehnissen im Wendenland jenseits der Elbe.
Dort nämlich hatte es zu gären begonnen: Einige Zeit lang hatte Niklot die zugesagten Tribute vereinbarungsgemäß entrichtet, doch mussten die Zahlungen letztlich von wendischen Bauern aufgebracht werden, die infolgedessen Armut und Hunger litten. Dies führte zu Unruhen, woraufhin die Wenden begannen, über die Ostsee zu segeln und die Küsten Dänemarks zu überfallen, um sich durch Plünderung und Raub für die hohen Steuern zu entschädigen. Erbost über diese Entwicklung der Dinge, rüstete Herzog Heinrich zum Krieg und fiel im September des Jahres 1158, rund zehn Jahre nach dem Kreuzzug, erneut in das Land der Wenden ein. Über den Verlauf dieses Kriegszugs konnte ich wenig in Erfahrung bringen, doch wurde Niklot gefangen genommen, über die Elbe nach Westen verschleppt und in Lüneburg in den Kerker geworfen. Seine Söhne mussten ihn freikaufen, indem sie Gehorsam schworen und, wie ich annehme, zudem ein Lösegeld zahlten.
Der Friede währte jedoch kaum ein Jahr, denn die Unruhen im Wendenland dauerten fort. So ließ der Herzog erneut rüsten, um ein drittes Mal gegen Niklot zu ziehen. Dieser erkannte rasch, dass er dem Zorn seines Gegners nicht trotzen konnte, und ergriff die Flucht. Die Burg Dobin, die wir einst so lange und erfolglos belagert hatten, ließ er in Brand setzen und zog sich weit nach Osten in eine Festung namens Werle zurück. Erneut gab es eine Belagerung, und erneut wurden – wie schon vor dreizehn Jahren – Trossknechte ausgeschickt, um wendische Dörfer im Umkreis zu plündern und Nahrungsmittel herbeizuschaffen. Die Wenden in der Burg jedoch nutzten wiederum eine geheime Ausfallpforte, lauerten den kleinen Gruppen auf und überfielen sie aus dem Hinterhalt. Als durch Späher bekannt wurde, dass Niklot sich persönlich an diesen Überfällen beteiligte, stellte Herzog Heinrich ihm eine Falle: Erneut sandte er eine Gruppe aus und reizte die Wenden zum Angriff. Tatsächlich erschien bald darauf Niklot mit einer Schar wendischer Reiter, senkte seine Lanze und ritt gegen die vermeintlichen Knechte an. Doch die Lanzenspitze glitt ab, denn in Wahrheit handelte es sich um verkleidete Ritter in voller Rüstung. Sie umringten Niklot, und obwohl er tapfer focht, zogen sie ihn schließlich vom Pferd und hieben ihn nieder. So endete Niklot, der Fürst der Wenden, im stolzen Alter von über sechzig Jahren und bis zum letzten Atemzug kämpfend. Die Ehre einer Bestattung wurde ihm verweigert; stattdessen ließ Herzog Heinrich seinen Kopf auf eine Lanze spießen.
Diesmal ließ der Herzog das gesamte Land besetzen und verteilte es an seine Edelherren und Dienstleute. In Schwerin, am südlichen Ufer des großen Sees, ließ er eine Burg erbauen und setzte den jungen Gunzelin von Hagen, den ich einst beim Kreuzzug kennengelernt hatte, als Statthalter ein. Niklots Söhne jedoch gaben ihren Widerstand keineswegs auf, sondern verbündeten sich mit einem weit im Osten lebenden wendischen Stamm, den Pomeranen, um das Land ihres Vaters
Weitere Kostenlose Bücher