Die Tränen der Vila
gesehen worden war. Zu diesem Zweck schlich ich näher an eine der Hütten, klopfte dem Tier beruhigend den Hals und band es kurzerhand an den Gartenzaun. Der Bewohner des Hauses würde es finden, wenn er mit seinen Schafen von der Weide zurückkehrte, und in gewisser Weise empfand ich diesen Gedanken als tröstlich. Oft genug hatten wir die Schäfer beraubt; nun mochte das Pferd als gerechte Sühneleistung dienen. Dann setzte ich meinen Weg fort und zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, als in einiger Entfernung die Stadt auftauchte.
Hermannsburg war eine kleine Stadt, umfasste nur wenige Dutzend Häuser und war nicht von einer Mauer, sondern lediglich von einem Erdwall mit hölzernen Palisaden umgeben. Mein Plan hatte darin bestanden, den Markt aufzusuchen, um aus den Gesprächen der Städter etwas über das Schicksal der Räuber zu erfahren. Das stellte sich jedoch als unnötig heraus. Als ich mich nämlich einem der Tore näherte, passierte ich einen Hügel, und mein Blick wurde zu einem Holzgestell hinaufgelenkt, das ich von weitem für ein Baugerüst gehalten hatte.
Ich blieb stehen, und das Grauen erfasste mich mit jäher Kälte. Das hölzerne Gerüst, rechteckig und von vier schweren Stützbalken getragen, war nichts anderes als ein Galgen. An seiner Längsseite, die der Straße zugewandt war, hingen sechs menschliche Leiber, einer dicht neben dem anderen wie Fleischstücke an einem Räucherbalken. Alle sechs trugen schlichte Kittel aus grauem Wollstoff, unter deren Säumen die nackten Füße hervorragten. Einige drehten sich träge im Wind, wobei die Stricke leise knarrten, andere hingen still und reglos. Die Köpfe waren zur Seite gesunken, bei manchen nach links, bei anderen nach rechts; allen jedoch stand der Mund offen wie zu einem unhörbaren Schrei, und die Zungen bleckten hervor.
Da war Bertolt, der stolze Anführer seiner Männer, den ich nur im prächtigen Rock, mit breitem Filzhut und wallendem schwarzem Haar gekannt hatte – nun war sein Schädel geschoren, und seine Haut war grau wie sein armseliges Gewand. Neben ihm drehte sich Warmund im Wind, der entsprungene Mönch, mit grotesk verrenktem Genick und auf die Brust gesunkenem Kinn. Ihm zur Seite folgte Burkhard, dann Sigwalt, schließlich Hein, dessen Augen derart aus den Höhlen gequollen waren, als starre er ungläubig auf das Gras unter seinen Füßen. Die Letzte in der Reihe war Hildegard. Auch ihr Haar war geschoren, so dass es nicht über das Gesicht fallen und gnädig die blau verfärbten Wangen verhüllen konnte. Ihre Augen jedoch waren – Gott sei es gedankt – geschlossen.
Lange Zeit stand ich am Fuß des Galgenhügels und starrte hinauf, bis ein rauhes Krächzen mich auffahren ließ. Krähen hatten sich auf dem Balken niedergelassen wie auf einem Dachfirst, geduldig wartend, dass der lebendige Mensch verschwände und sie ihr makabres Leichenmahl fortsetzen könnten. Gleichzeitig entstand Bewegung beim Stadttor, durch das eben ein Ochsenkarren auf die Straße hinaus rumpelte. Hastig zog ich meine Kapuze tiefer, und um keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, wandte ich mich zum Gehen und kehrte der Stadt den Rücken.
Drei weitere Tage lang verbarg ich mich in der Wildnis, aß nichts außer wilden Beeren, trank Wasser aus einem Bach und saß die meiste Zeit unter einem Baum, die Arme um die Knie geschlungen und still vor mich hin brütend. Ich schlief kaum, und wenn das Bewusstsein mich doch für ein oder zwei Stunden verließ, suchte mich das Bild der sechs Gehenkten heim. Selbst das Rauschen der Wipfel und das Knarren der Äste über mir verwandelte der Traum in die flatternden Kittel der Toten und in das Ächzen der Seile. War ich wach, so erging es mir nicht besser: Zuzeiten war ich wie erstarrt, dann wieder weinte ich haltlos und konnte stundenlang nicht damit aufhören.
Besonders verfolgte mich der Gedanke an Hildegard. Auch sie war gerichtet worden, obwohl sie an keiner unserer Raubtaten teilgenommen hatte. Der warme Mund, der meine Wange geküsst hatte, war nun kalt und verzerrt, die stolze Seele grausam aus dem schönen Leib gepresst. Und war es nicht meine Schuld? Hatte nicht ich die Männer des Vogts zur Mühle geführt? Hatte nicht Hildegard ihr Leben geopfert, um das meine zu retten? Dieser Gedanke ließ mir vor Verzweiflung und Scham fast das Herz stillstehen.
Dann plötzlich fiel mir ein, dass keineswegs nur ich überlebt hatte: Herbort hatte nicht am Galgen gehangen. Sollte gerade er, der Ruchloseste von allen,
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