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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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der Strafe entgangen sein? Konnte dies dem Willen Gottes entsprechen? Unwillkürlich erinnerte ich mich an die Worte Warmunds. Vielleicht gab es keine göttliche Gerechtigkeit; womöglich waren alle Menschen nur dem Wechselspiel blinder Gewalten ausgeliefert – und im Bewusstsein solcher Verlassenheit, die jede denkbare Strafe an Grausamkeit übertraf, fühlte ich mich so einsam und verloren wie nie zuvor.
    Doch die Seele eines jungen Menschen im Alter von zwanzig Jahren ist stark. Trotzig klammert sie sich an die Welt und greift begierig nach jedem Grund, sich in ihr zu erhalten. So verließ ich nach einigen Tagen meinen einsamen Rückzugsort und begann, nach Norden zu wandern, wie ich es schon vor Jahren getan hatte. Diesmal floh ich nicht vor Krieg und Zerstörung, nicht einmal vor den Männern des Vogts. Keine vernünftige Überlegung gab mir die Richtung ein – nur fort wollte ich, ohne Absicht und Ziel. Ich fand eine Straße und gelangte endlich in ein Gebiet, wo die Wälder sich lichteten, die Moore zurückwichen und die kargen Heideflächen in Ackerfelder übergingen.
    Von weitem sah ich Schäfer mit ihren Herden, Bauern, die auf den Feldern arbeiteten, Frauen, die Hühner fütterten oder Säuglinge stillten. Erstmals seit langer Zeit wurde mir bewusst, auf welch mühselige Weise die anständigen Menschen ihr Dasein fristeten. Im Lauf der Jahre hatte ich nur noch selten darüber nachgedacht, ob ein armer Teufel, den wir um seine wenige Habe erleichterten, womöglich seine Abgaben nicht mehr bezahlen konnte und hungers sterben musste. Jedes Mal, wenn ich nun einen Bauern auf seinem Acker sah, die Stirn schweißglänzend und die Haut vom Erdstaub bedeckt, überkamen mich Gefühle der Scham, und ich begann, echte Reue zu empfinden.
    Vor kurzem noch hatte ich an Gott gezweifelt, doch je weiter ich wanderte, umso tiefer erneuerte sich mein Glaube. Ich begann, wie in Kindertagen mit der Gottesmutter Zwiesprache zu halten und Vergebung für mein gesetzloses Leben zu erflehen. Ich hielt an jeder Kirche und jedem Friedhof, um dessen zu gedenken, der sich für die Sünden der ganzen Welt geopfert hatte – also auch für die meinen. Als ich an einem Sonntag durch ein Dorf zog, dessen Bevölkerung sich gerade vor der Kirche versammelte, schloss ich mich an und erlebte zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder die heilige Messe. Anfangs fürchtete ich, meine Kapuze zurückzuschlagen und mein Gesicht zu zeigen – was unausweichlich war, da niemand mit bedecktem Haupt ein Gotteshaus betreten durfte. Als ich jedoch im Innern der bescheidenen Kapelle stand, empfand ich die Nähe der Menschen geradezu als tröstlich. Die meisten waren Bauern, die einen Geruch nach Acker, Stall und ehrlicher Arbeit verströmten, der in mir wehmütige Erinnerungen an meine Kindheit weckte. Von der lateinischen Messe verstand ich genauso wenig wie früher, doch wenn meine Aufmerksamkeit nachließ, heftete ich den Blick auf den sterbenden Christus am Kreuz und beichtete still meine Sünden.
    Nach diesem Erlebnis befand ich mich in höchst empfänglicher Stimmung, als ich tags darauf eine Ortschaft namens Oldenstadt erreichte, auf deren Marktplatz ein Priester unter freiem Himmel predigte. Er stand auf einem hölzernen Podest, ein beschriebenes Pergament in der Hand, und sprach mit weithin hörbarer Stimme zu einer großen Volksmenge. Hinter dem Podest bemerkte ich ein Pferdefuhrwerk mit mehreren Knechten, was mich vermuten ließ, dass es sich um einen reisenden Prediger handelte, der eine Bekanntmachung im Auftrag des Bischofs verlas. Neben dem Wagen war eine Art Tresen aufgebaut, hinter dem zwei Männer in Ordenstracht damit beschäftigt waren, Kreuze aus weißem Wollstoff zu schneiden.
    „Ich zweifle nicht“, rief der Priester soeben, „dass sich auch hier die Kunde verbreitet hat, wie Gott den Geist der Könige und Fürsten entflammt, die Heidenvölker zu bestrafen und die Feinde des christlichen Namens von der Welt zu tilgen! Unser Herr König Konrad ist bereits vor zwei Wochen mit zahlreichem Kriegsvolk ins Heilige Land aufgebrochen, um die Sarazenen zu bekämpfen.“
    Neugierig mischte ich mich unter die Stadtbewohner und lauschte. Von den Kreuzzügen ins Heilige Land wusste ich wenig. Bekannt war mir lediglich die vage Tatsache, dass Ungläubige, Teufel von dunkler Hautfarbe und finsterer Seele, sich des Grabes Christi bemächtigt hatten, woraufhin ganze Heerscharen christlicher Ritter gegen sie ausgezogen waren. Offenbar jedoch hatte

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