Die Tränen der Vila
Gott den frommen Kriegern keinen endgültigen Sieg geschenkt, da nun erneut ein Heer aufgeboten wurde.
„Unser Herr Papst, der Heilige Vater zu Rom, hat jedoch noch einen weiteren Kriegszug beschlossen“, fuhr der Prediger fort. „Es drang nämlich Kunde zu ihm, dass jene gottlosen Menschen, die unweit von hier am anderen Ufer der Elbe wohnen und Wenden genannt werden, das Zeichen des Kreuzes missachten. Daher erklärt er, dass sich die Stärke aller Christen gegen diese Heiden rüsten soll, um ihre Stämme entweder völlig zu vernichten oder auf immer zu bekehren. Den Teilnehmern an diesem Werk wird die gleiche Vergebung der Sünden versprochen wie jenen, die nach Jerusalem gezogen sind. Bewaffnet euch mit dem Eifer Gottes, Brüder, gürtet eure Schwerter und seid Söhne des Gewaltigen! Kraft der Barmherzigkeit Gottes erlassen wir jedem Kreuzfahrer sämtliche Strafen, welche die Kirche für seine Sünden über ihn verhängt haben mag, vorausgesetzt, dass er sie reuigen Herzens gebeichtet hat. Jegliche Schulden geistlichen wie weltlichen Herren gegenüber werden ihm ohne Zins gestundet. Wer aber auf dem Kriegszug sein Leben lässt, dem ist die Gnade Gottes und die ewige Seligkeit gewiss.“
Ein Raunen ging durch die Menge, und ich sah manches Augenpaar begeistert leuchten.
„Zwei Heere werden gegen die Wenden ziehen“, rief der Prediger. „Eines sammelt sich in Magdeburg unter dem Markgrafen Albrecht, das andere bei der Ertheneburg im Norden unter unserem jungen Herzog Heinrich. Dorthin ist es nur drei Tagesreisen weit! Es eile sich und ziehe aus, wer guten Willens ist!“
Sogleich entstand ein großer Aufruhr auf dem Marktplatz. Mehrere Männer stürmten zu dem Tresen, wo die beiden Ordensbrüder ihre Stoffkreuze aufgeschichtet hatten. Halbwüchsige wollten sich ihnen anschließen, wurden jedoch von ihren Eltern oder Geschwistern zurückgehalten, so dass lautstarker Streit entstand. Allenthalben wurde gedrängelt, gerempelt, gerufen und gezankt. „Gott will es!“, schrie einer, „Lasst mich gehen!“, ein anderer. Ich selbst wich an den Rand des Platzes zurück und beobachtete, wie sich vor dem Tisch mit den Stoffkreuzen eine Schlange bildete. Jeder Freiwillige erhielt ein Kreuz, das ihm einer der Ordensbrüder auf die rechte Schulter legte und mit groben Nadelstichen befestigte, während der andere die Worte Christi rezitierte: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es erhalten.“
Der Aufruhr legte sich, als etwa ein Dutzend Männer und drei halbwüchsige Jungen das Kreuz empfangen hatten und zurückkehrten, um sich von ihren Angehörigen zu verabschieden. Diese reagierten höchst unterschiedlich. Einige wünschten den Freiwilligen unter Tränen den Segen Gottes, andere machten ihnen bittere Vorwürfe.
„Wie sollen wir die Ernte einbringen, wenn du fort bist?“, hörte ich eine junge Frau schreien, deren Ehemann sich den Kreuzfahrern angeschlossen hatte. „Du glaubst wohl, Gott vergibt dir, dass du meine Schwester geschwängert hast, wenn du mitziehst! Mag Er dir vergeben, ich tue es bestimmt nicht!“
Einige der Umstehenden lachten anzüglich, während der Mann beschämt den Kopf senkte und eine halblaute Verteidigung murmelte. Seine Frau versetzte ihm vor aller Augen eine Ohrfeige, wandte sich um und zog zwei weinende Kinder mit sich fort.
Der Prediger, der inzwischen von seinem Podest gestiegen war, gab seinen Begleitern Anweisung, den Tisch abzubauen und die Pferde anzuschirren. Offenbar wollte er sich sogleich auf den Weg zum nächsten Dorf machen. Als er seinen Wagen bestieg und die Stadtbewohner sich zerstreut hatten, ging auch ich meiner Wege, verließ die Ortschaft und wanderte weiter nach Norden.
Doch das Geschehen beschäftigte mich, und die Worte des Predigers hallten in meinem Geist wider. Wer am Kreuzzug teilnahm, so hatte er gesagt, dem waren alle Sünden vergeben, und wer im Dienst des Kreuzes starb, erlangte das ewige Leben. War es nicht eben dies, wonach ich seit Wochen gesucht hatte: Sühne für mein gesetzloses Leben? War es nicht offensichtlich, dass Gott mich hierhergeführt hatte, um mir anzuzeigen, auf welche Weise ich meine Schuld tilgen konnte?
Ich musste an die beiden wendischen Bauern denken, die Herbort einst getötet hatte. Über die Ungläubigen wusste ich nur das wenige, was Bertolt und Warmund mir
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