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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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erzählt hatten. Freilich waren sie mir, abgesehen von ihrer Sprache, kaum verschieden von den einheimischen Bauern erschienen. Hatten diese Menschen den Tod verdient? Hatte Herbort also recht gehandelt, als er sie erdolchte? Ich kam zu keinem Schluss, und am Ende meiner unruhigen Überlegungen fiel ich in Schlaf.

Von Ritter Hartmann
    Gott fällte die Entscheidung, die ich nicht zu fällen vermochte. Als ich nämlich am Morgen weiterzog, hörte ich hinter mir die Hufe eines trabenden Pferdes. Der Reiter schloss auf, und ich nahm aus dem Augenwinkel den mächtigen Schatten des Pferdes wahr, das an mir vorüberglitt. Ich wagte nicht aufzublicken, obwohl es eigentlich keinen Anlass zur Furcht gab. So weit entfernt von jenem Waldland, wo Bertolts Räuberbande gehaust hatte, war es kaum wahrscheinlich, dass irgendjemand mein Gesicht erkannte. Dennoch wünschte ich nichts mehr, als dass der Fremde seinen Weg fortsetzen und mich nicht beachten möge.
    Doch der Reiter wandte sich im Sattel um, zügelte sein Pferd und ließ es langsamer gehen, so dass ich aufholte, bis wir erneut auf gleicher Höhe waren. Ich spürte deutlich, dass er mich musterte.
    „Gott zum Gruß!“, sagte er plötzlich, und vor lauter Erstaunen vergaß ich meine Scheu und hob den Blick. Neben mir ging ein Pferd von edler, hochbeiniger Gestalt, wie es nur Personen von hohem Stand zu reiten pflegten. Darauf saß ein hochgewachsener Mann von etwa vierzig Jahren, gekleidet in einen abgetragenen Sarrock aus braunem Wollstoff, dessen weite Schöße die Hüften bedeckten. An einem Riemen über der Schulter trug er einen hölzernen Schild, am Gürtel ein Schwert in einer Lederscheide.
    „Gott zum Gruß, Herr“, erwiderte ich recht verspätet, als ich begriff, dass ich einem Edelmann gegenüberstand.
    Der Reiter ließ sein Pferd weiter im Schritt gehen, ohne den Blick von mir zu wenden.
    „Wohin des Wegs?“, fragte er.
    „Ich weiß nicht, Herr“, antwortete ich unbehaglich.
    „Du weißt es nicht?“
    Ich schwieg.
    „Woher kommst du?“
    „Aus der Gegend von Brunsvik“, antwortete ich, nachdem ich beschlossen hatte, weder die volle Wahrheit noch eine wirkliche Lüge auszusprechen.
    „Hast du ein Gewerbe?“
    „Nein, Herr.“
    „Hast du Angehörige?“
    „Sie sind schon lange tot.“
    „Wer sorgt für dich?“
    „Niemand, Herr.“
    „Und wovon lebst du?“
    Die Frage brachte mich in Verlegenheit. Es war kaum glaubwürdig zu behaupten, dass ich mich seit frühester Jugend mit dem Verzehr von Waldbeeren und Wildäpfeln durchgebracht hatte. Sollte ich mich als Bettler ausgeben?
    „Tagelöhner?“, fragte mein neugieriger Begleiter, womit er mir unerwartet aus dieser Schwierigkeit half.
    Ich nickte.
    Er schwieg, trottete weiter neben mir her und musterte mich recht ungeniert vom Kopf bis zu den Füßen.
    „Du bist gut gewachsen und kräftig“, sagte er schließlich. „Nur halb verhungert siehst du aus. Möchtest du einen Dienst versehen, der dir allzeit gutes Essen, anständige Kleider und eine ehrbare Stellung einbringt?“
    Unwillkürlich blieb ich stehen und starrte den Reiter mit offenem Mund an. Sein Gesicht berührte mich vom ersten Moment an eigentümlich vertrauenerweckend, wenngleich es nicht im üblichen Sinne schön war, sondern schmal und markant, mit hohen Wangen, einer mehrfach gebrochenen Nase und weit auseinanderstehenden, hellgrauen Augen. Das an den Schläfen bereits gelichtete Haar fiel in offenen Locken auf die Schultern; der Bart dagegen war sauber gestutzt und von grauen Fäden durchsetzt.
    „Ich ... habe Euch nicht verstanden, Herr“, brachte ich schüchtern vor.
    Der Mann lächelte. „Ich frage dich, Junge, ob du mein Waffenknecht werden willst. Ich bin auf dem Weg zur Ertheneburg im Norden, um dem Herzog meine Dienste beim Kreuzzug gegen die Wenden anzubieten. Wenn du mit mir kommst, will ich gut für dich sorgen. Du stehst unter meinem persönlichen Schutz, und ich werde für deine Nahrung und Kleidung aufkommen. Dafür hast du dich um meine Ausrüstung und um mein Pferd zu kümmern und für meine Bequemlichkeit zu sorgen.“
    Als ich noch immer mit offenem Mund dastand und keine Antwort hervorbrachte, lachte er lauthals. „Komm schon! Du hast kein Gewerbe und kein Obdach, und ich brauche einen Waffenknecht. Willst du oder willst du nicht?“
    Endlich löste sich meine Erstarrung, und ich erkannte sein Lächeln als aufrichtig und das Ansinnen als ernsthaft.
    „Das will ich gern, Herr!“, sagte ich – womit ich

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