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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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die wohl folgenschwerste Entscheidung meines Lebens traf.
    „Wie ist dein Name, Junge?“, fragte der Ritter.
    „Odo, Herr.“
    „Ich bin Hartmann, Edler von Aslingen.“ Er wandte das Gesicht geradeaus und trieb sein Pferd an. „Folge mir! Ich will heute noch bis zu einem Ort namens Babenhusen gelangen. Dort können wir uns etwas zu essen und einen Schlafplatz für die Nacht besorgen.“
    Ich konnte mein Glück kaum fassen. Eben noch ein verwaister Bauernbursche, ein Gesetzloser und Dieb, war ich mit einem Mal der Diener eines adligen Herrn. Bis heute weiß ich nicht, was den Ritter bewogen hatte, mich anzusprechen. Gewiss waren nicht wenige Menschen auf der Straße unterwegs; erwählt jedoch hatte er mich, der ich vom Hunger gezeichnet war und sicher elender und zerlumpter aussah als mancher andere. Vielleicht hatte ich sein Mitleid erregt, oder er hielt mich aufgrund meines erbärmlichen Zustands für besonders fügsam.
    Längere Zeit gingen wir nebeneinander her und wechselten kaum Worte. Manchmal sang er halblaut vor sich hin, recht unmusikalisch und ohne eigentliche Melodie, doch glaubte ich, einige Zeilen aus einem Pilgerlied zu erkennen. Am Abend erreichten wir Babenhusen, eine kleine Stadt, die mich an Hermannsburg erinnerte. Auch hier gab es einen Erdwall mit Palisaden, einige Dutzend niedrige Häuser, eine Kirche und eine bescheidene Burg. Zuerst nahm ich an, dass der Ritter sich zur Burg begeben würde, um den Stadtvogt um Quartier zu ersuchen. Stattdessen jedoch wandte er sich einem Bauernhaus außerhalb des Walls zu und rief dessen Bewohner heraus.
    „Heda, Sasse!“, sagte er, als ein alter Mann an den Gartenzaun trat und beim Anblick des Edlen demütig den Kopf senkte. „Ich bin auf dem Weg zum Kreuzzug im Norden. Hast du einen Schlafplatz für mich und meinen Burschen? Der Stall soll uns recht sein.“
    „Kommt herein, Herr“, antwortete der Bauer, öffnete die Pforte und trat beiseite. Hartmann ritt ohne Umstände über den Fußweg zum Stall, wobei er dem Häusler eine Münze zuwarf.
    „Mach uns etwas zu essen!“
    Der Bauer fing die Münze auf und betrachtete sie einen Moment lang ungläubig.
    „Ja, Herr – sofort, Herr!“, rief er beflissen und eilte zurück ins Haus.
    Hartmann stieg vom Pferd, öffnete den Stall und fluchte leise, als er ihn von zwei Ochsen und mehreren Ziegen besetzt fand. Es war kaum Platz übrig für das Pferd, geschweige denn für uns.
    „Odo!“, wandte er sich an mich. „Mach die Ziegen los und führ sie hinaus.“
    Ich gehorchte und ergriff eine Ziege nach der anderen bei den Hörnern, um sie hinauszuschleifen. Die Tiere waren keineswegs erfreut, ihren warmen Schlafplatz zu verlassen, wanden sich unter meinem Griff und meckerten erbost. Derweil lud Hartmann seelenruhig das Gepäck vom Pferd, entrollte eine Decke und warf sie auf das trockene Stroh.
    Als der Bauer mit einer Schale in den Händen zurückkehrte, erschrak er zunächst, seine Ziegen im Freien vorzufinden.
    „Sie werden schon nicht fortlaufen“, beschied Hartmann knapp. „Nimm sie mit ins Haus, wenn du dir Sorgen machst.“
    „Ja, Herr“, sagte der Bauer, neigte den Kopf und hielt dem Ritter die Schale hin. Darauf lagen einige Rüben, etwas Feldsalat und ein Stück gebackenes Brot. „Dies hat mein Weib für euch zubereitet.“
    Hartmann verzog den Mund. „Etwas Besseres hast du nicht?“
    „Wir sind Hörige, Herr“, versetzte der Bauer beschämt, „und haben nur das Nötigste zu essen.“
    Der Ritter nickte resigniert. „Ich nehme nicht an, dass Wein im Haus ist“, mutmaßte er.
    „Nein, Herr“, bestätigte der Bauer. „Aber ich werde Euch Milch bringen.“
    Das tat er, und so nahmen wir ein Abendessen aus Milch, Brot und Rüben ein, recht beengt in dem Verschlag, der voll von schmutzigem Stroh war und nach Dung roch. Hartmann hatte sich auf seine Decke gelagert und aß im Liegen, den Kopf mit der linken Hand gestützt, während er mit der rechten nach den Speisen griff. Ich saß an der kurzen Hinterwand des Verschlags, langte gleichfalls zu und konnte mich kaum beherrschen, so groß war mein Hunger.
    „Iss nur“, sagte der Ritter und schob die Rüben zu mir herüber. „Du hast es nötiger als ich.“
    Dankbar aß ich alles auf – viel zu schnell, so dass mein Magen sich beutelte –, während Hartmann mit mäßigem Appetit etwas Brot verzehrte.
    „Morgen kommen wir nach Lüneburg, dort werden wir besser speisen“, sagte er und griff nach dem Milchkrug. „In der Stadt gibt es

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