Die Traenen Des Drachen
der Winter ausbreitet, fühlt es in euren Herzen!
Nein, ich rede von mir. Ich bin alt, und die Worte, die aus meinem Mund fließen, bilden ihre eigene Geschichte. Der Winter beschäftigt mich den ganzen Tag, denn der Herbst in mir geht dem Ende entgegen.
Aber lasst uns zurückkehren nach Erste Schneeflocke. Dort auf dem Hügel breiten die Waldgeister ihre Decken aus. Sie ziehen ihre Rindenstiefelchen aus und tanzen barfuß umher. Einige gehen an den Waldrand und sammeln Zweige, und wenn das Feuer brennt, springen die Moosmänner so voller Freude herum, dass ihre Bärte hinterher ganz zerzaust sind. Nachdem sie eine Weile getanzt haben, setzen sie sich wieder hin. Dann holen sie all das Essen und Trinken heraus, das sie in ihren Säckchen herbeigeschafft haben. Es ist ein guter Brauch, dass jeder Waldgeist genug Essen für sich und drei andere mitbringt. Sie braten Äpfel und Pilze über dem Feuer und wärmen in ihren Kesseln den Beerensaft auf. Ja, so ein Saft, wie er hier heute Abend auf dem Feuer steht! Ihr mögt ihn, nicht wahr, Freunde? Die Waldgeister haben mir gezeigt, wie man diesen Saft macht. Du, kleiner Tenn, warst doch im Sommer mit mir oben im Gebirge, beim Dickicht am Hohlen Stein? Ich habe die Beeren, die wir gefunden haben, getrocknet und aufgehoben, bis ihr kamt, um meine Geschichte zu hören.
Dort oben auf der Lichtung mit Namen Erste Schneeflocke essen und trinken die Waldgeister so viel sie nur können, und während sie heimlich konkurrieren, wer am meisten essen kann, erzählen sie, was sie alles getan haben, seit sie sich das letzte Mal gesehen haben.
»War dreimal im Jahr in der Stadt der Jäger«, sagt vielleicht der eine, den Mund voller Pilzbrei.
»Ich habe den Gamle auf den Hügeln besucht«, antwortet der andere und leert einen Krug mit Blaubeermost.
Und ein Dritter versucht sie vielleicht alle zu übertrumpfen, indem er sagt:
»Ich habe mich in die Burg Kels geschlichen und fremdartige Früchte aus dem Süden probiert, direkt vom Tisch der Händler!«
So kann es eine lange Weile gehen, und niemand, nicht einmal die Waldgeister selbst, weiß, wo die Wahrheit aufhört und das, was sie erzählen, zur Fantasie wird. Doch die ganze Zeit über trinken und essen sie.
Die Waldgeister nennen diese Nacht Visom. In unserer Sprache bedeutet das »viel Essen«, denn immer schon haben sie den ersten Schnee mit wahren Wettkämpfen in Essen und Trinken gefeiert. Und niemand hat je gedacht, dass so etwas gefährlich sein kann. Wie heißt es bei den Waldgeistern: »Essen freut den Magen, und Beerensaft lockt den Bart.«
Aber in dieser einen Visom-Nacht, vor drei Mannesaltern, geschah etwas Sonderbares. Es war derart sonderbar, dass der ganze Westwald viele Jahre davon sprach. Aber ehe ich erzählen kann, was so merkwürdig war, muss ich etwas über die Waldgeister erzählen. Und noch einmal sage ich: Die Waldgeister sind lieb. Sie haben meine Finger nicht als Pfand genommen. Sie haben mir die Hasenscharte nicht in den Gaumen geschnitten, was euch eure Eltern auch erzählen, und es ist nicht ihre Schuld, dass meine Haut von Federn verdeckt ist. Nein, die Einzigen, die sich vor den Waldgeistern hüten müssen, sind die Trolle. Von diesen zottigen Riesen habt ihr ja bestimmt schon gehört. Sie, die so groß sind, dass sie diese Steinhütte mit einem Mal verschlingen könnten, werden von den Moosmännern gejagt. Wenn ein Waldgeist geboren wird, ist er bereits erwachsen, er hat schon einen Bart, Lachfalten, einen runden Bauch und all das. Ihr müsst wissen, dass die Waldgeister keine kleinen Menschen sind und sicher auch keine kleinen Zauberwesen, die von irgendeinem Hexenmeister in Tuur geschaffen worden sind. Nein, die Waldgeister werden von den Bäumen geboren, sie wachsen aus den Wurzeln heraus wie die Schösslinge eines Himbeerbusches. Das behaupten auf jeden Fall die Waldgeister selbst. Und wenn der Baum den Waldgeist freigibt und ins Leben entlässt, weiß der Waldgeist bereits viel über den Wald und das Leben, denn er hat durch die obersten Zweige zum Himmel geschaut und den Boden und die vergessenen Zeiten mit den tiefsten Wurzeln gespürt.
Der Waldgeist erhebt sich vom Boden und geht in den dunkelsten Teil des Westwaldes. Dort wartet immer ein Trolljäger auf ihn. Und ein Trolljäger, das ist ein alter Waldgeist, einer, der bereitsteht, den Jungen alles beizubringen, was er selbst weiß. Der Trolljäger weiß immer, genau wie bei den ersten Schneeflocken, wann der neue Waldgeist kommen
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