Die Traenen des Mangrovenbaums
Fahrrinne über.
Es dämmerte bereits, als sie am Abend des 2. Juni 1880 Batavia erreichten. Das sonore Brüllen der Schiffssirene begleitete das Einlaufen der Anne-Kathrin in den Hafen. Der Dampfer legte jedoch nicht an, sondern verharrte in der Bucht und wartete auf die Tender, die von den Piers ausschwärmten, um die Passagiere an Land zu bringen.
»Die Anne-Kathrin kann nicht unmittelbar in den Hafen einlaufen. Die Bucht ist zwar breit und geräumig, aber nicht tief genug für ein großes Schiff«, erklärte ihr Dr. Lutter. »Der Ciliwung-Fluss schiebt hier ständig gewaltige Massen Schlick und Sand ins Wasser, die Bucht versandet zusehends, sodass die Tiefe oft nur dreißig Meter beträgt. Deswegen wurde auch schon 1877 mit dem Bau eines neuen Hafens östlich von hier bei Tanjung Priok begonnen, aber es wird noch einige Jahre dauern, bis er fertig gestellt ist.«
Anna Lisa zappelte förmlich vor Ungeduld, als sie so lange warten mussten. Schritt für Schritt vorwärtsrückend, stand sie in der langen Schlange der Passagiere, die sich die Landebrücke hinunterzog. Nicht auszudenken, wenn der Dampfer statt in der Abenddämmerung in der ärgsten Mittagshitze angelegt hätte! Zwar wurden die Passagiere der ersten Klasse bevorzugt, aber es dauerte doch sehr lange.
Sie seufzte erleichtert auf, als sie endlich an der Reihe waren und ein Matrose ihr an Deck des Tenders half, der sie an Land bringen sollte. Simeon folgte ihr in einem Tragsessel – es wäre unmöglich für ihn gewesen, sich auf Krücken durch das wüste Gedränge zu kämpfen. Pahti und Tietjens waren an seiner Seite, Fräulein Bertram und die kleine Gesine folgten. Anna Lisa merkte gar nicht, dass sie wie selbstverständlich die Rolle des Familienoberhauptes übernommen hatte: Sie ging als Erste an Bord des Tenders, sie befehligte die Gepäckträger, sie sprach die üblichen höflichen Abschiedsworte zum Kapitän, der am Ausgang Aufstellung genommen hatte. Auch Dr. Lutter sagte sie mit feuchten Augen Lebewohl. Während sie seine Hände umklammerte, flüsterte sie: »Ohne Sie, lieber Doktor, wäre ich verloren gewesen. Wünschen Sie mir Glück für die Zukunft!«
»Ich wünsche Ihnen Glück«, erwiderte er voll Gefühl, aber mit einem traurigen Unterton. »Sie werden es brauchen.«
Sie nutzte die kurze Fahrt mit dem Tender auch, um sich von Gesine zu verabschieden. Es tat ihr bitter leid, die kluge Gefährtin zu verlieren, aber ein kleines Mädchen gehörte zu seinen Eltern, das sah sie ein. Mit einem Geldgeschenk, einer Umarmung und vielen freundlichen Worten an die übrigen Schreiners entließ sie die Kleine aus ihren Diensten.
Wenig später erreichten sie die Kaianlagen. Eine erstickende Hitze herrschte dort, obwohl die Sonne bereits hinter den Horizont gesunken war, und ein maischiger Geruch wie nach faulenden Früchten. Anna Lisa hatte gehofft, Luft zu bekommen, wenn sie einmal das Schiff und den überfüllten Tender verlassen konnten, aber sie hatte sich getäuscht. Auf dem Kai herrschte ein Betrieb wie in einem Hühnerstall, wenn die Bäuerin mit dem Futter kommt. Unmengen von lärmenden Menschen umschwärmten die Neuankömmlinge. Da waren Matrosen in weißen Blusen und blauen Jacken, die, von den Befehlen der Offiziere herumgescheucht, hin und her rannten. Europäische Beamte in weißen Anzügen und Tropenhelmen eilten geschäftig umher. Einheimische Händler, Schlepper, Huren, Zuhälter und Taschendiebe hängten sich an die weißen Reisenden wie Fliegen an den Honigtopf. Jedenfalls an Trubel konnte es Batavia mit einer europäischen Hafenstadt aufnehmen, nur dass hier alles viel bunter war und die Leute viel fröhlicher.
Sie mussten sich ihren Weg über den Kai erkämpfen, auf dem sich Kisten, Fässer und Säcke mit der Ladung befanden, die die Schiffe auf ihrer Weiterfahrt mitnehmen sollten: Auch hier stapelten sich Tabak, Kaffee, Tee, Pfeffer, Reis, Zucker, Kopra, Edelhölzer und Kautschuk. Lärm in einem Dutzend Sprachen übertönte das Klappern der Pferdehufe. Die Leute überschrien einander auf Englisch, Französisch, Deutsch, Chinesisch und in den einheimischen Sprachen Basa jawa, Basa sunda und Malayalam. Rhesusaffen sprangen kreischend von einem zierlich geschnitzten, hölzernen Vordach zum anderen. Wie die Geräusche mischten sich auch die Gerüche zu einem berauschenden Chaos.
Wäre Tietjens nicht gewesen, wer weiß, dachte Anna Lisa, ob sie das Hotel des Indes jemals erreicht hätten! Aber auch hier erzielte der Fila
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