Die Traenen des Mangrovenbaums
Brasileiro dieselbe Wirkung wie in Anjer. Als die würdige Hundedame erschien, begleitet von Pahti, der weniger den Eindruck eines Hundeführers als den eines unterwürfigen Leibsklaven machte, erstarrte die Menge zuerst, dann erhob sich ein allgemeines Geschrei, jeder versuchte zurückzudrängen und rannte dabei den hinter ihm Stehenden nieder. Ein junger Mann, der sich nahe an Simeon zu schaffen gemacht hatte, flüchtete in Panik und warf dabei einen dunklen Gegenstand auf den Boden – Simeons Kulturtasche, die er neben sich auf den Tragsessel gelegt hatte.
Anna Lisa sah ihren Mann an, der von einem Ohr zum anderen grinste. »Sagte ich dir nicht, sie wird uns eine unschätzbare Hilfe sein? Mein Rasierzeug hat sie jedenfalls schon gerettet.«
Als sie das Hafengelände verließen, eilte ein brauner Junge in einer seltsamen Uniform – er trug zu seiner einheimischen Tracht die Mütze eines europäischen Postboten – auf sie zu und reichte Simeon ein Formular. »Ein Telegramm für Sie, Mijnheer.«
Mit gerunzelter Stirn öffnete er das gefaltete Papier und las laut vor: »Mr. Wolkins verhindert + Treffen im Hotel des Indes + Zeebrugge.«
»Was heißt: ›Mr. Wolkins verhindert‹?«, grollte er. »War ihm der Weg herunter in den Hafen zu weit? Immerhin bin ich der Sohn seines Arbeitgebers, oder? Da hätte er seine Termine schon besser einteilen können. Ach was … egal. Treffen wir ihn eben im Hotel des Indes. Ich habe ohnehin keine Lust, länger als nötig in diesem stinkenden Sumpf hier herumzulungern.«
Anna Lisa nahm ihm das Telegramm aus der Hand und las es durch. »Wer ist Zeebrugge?«, fragte sie. »Einer der Angestellten deines Vaters?«
»Keine Ahnung. Ich kenne nur Wolkins mit Namen.« Eine schwache Röte stieg in seine Wangen. »Siehst du? Es fängt schon an. Mr. Wolkins hat Besseres zu tun, als mich persönlich abzuholen. Für Godfrid wäre er auf den Händen von der Plantage bis zum Hafen und zurück gelaufen. Aber mir schickt er einen seiner Ladenschwengel.«
Anna Lisa hielt es für klüger, das Gespräch abzubrechen. Egal, was sie sagte, Simeon würde auf jeden Fall schlechter Laune sein. Wenn sie erst im Hotel des Indes waren, würde er sich wohler fühlen als hier in der stoßenden und rempelnden Menge, dem Hafengestank und der fieberschwangeren Luft.
Sie fanden gleich am Hafen eine offene Droschke, und wenig später waren sie unterwegs zum Hotel des Indes. Der Weg führte quer durch die Kota, in der ein unglaublicher Lärm und Gestank herrschte. Die Altstadt von Batavia war ein zweites, altertümliches Amsterdam mit schmalen, spitzgiebeligen Häusern, die mit Kupfer gedeckt waren, kreuz und quer verlaufenden Grachten und hübschen hölzernen Ziehbrücken. Die Grachten dienten offenbar zur Entsorgung aller nur denkbaren Abfälle, denn sie waren mit einer träge dahinfließenden, übelriechenden, grünlichen Brühe gefüllt. Ratten huschten an den Rändern der Kanäle hin und her oder hockten frech auf den ausgehöhlten Fruchtschalen, die darin trieben. Anna Lisa verstand jetzt, warum die Gründer der Stadt es nicht lange in dieser sumpfigen Ebene ausgehalten hatten, dicht am Rande des feuchtheißen Dschungels.
Sie hatte erwartet, ihr Gatte, der schon in Deutschland so viel Angst und Abneigung angesichts der verseuchten benenstad gezeigt hatte, würde sich heftig beklagen, aber sein Verhalten überraschte sie. Er hatte nur Augen für die außergewöhnliche Blumenpracht, die diese verrottete alte Stadt einhüllte. Sein Blick schweifte von den hoch über ihren Häuptern im Wind schwankenden Blattwedeln der Palmen zu den schmalen Gärten vor und zwischen den Häusern und den Rabatten entlang der Straße. Wie ein Jäger, der ein seltenes Wild erspäht, lehnte er mit geblähten Nasenflügeln und glänzenden Augen über den Schlag der offenen Kutsche und saugte den bunten Überfluss in sich auf.
Trotz der lebhaften Geschäftigkeit, die überall herrschte, machte die benenstad einen verfallenen Eindruck. Der Droschkenkutscher, ein Holländer, sah sich auch als Fremdenführer. Mit der Peitschenschnur dahin und dorthin weisend, erzählte er ihnen, dass Kapitän James Cook 1771 gezwungen gewesen war, wegen Reparaturen am Schiff Monate im Hafen von Batavia zu liegen. Nachdem er einen beträchtlichen Teil seiner Mannschaft durch Cholera und Ruhr verloren hatte, kam er zu der Erkenntnis, »dass in Batavia wohl mehr Menschen durch die schlechte Luft sterben als irgendwo anders«. Seither galt die
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